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Die Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche


Gast Ketelhohn

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Gast Ketelhohn

Joseph Kardinal Ratzinger:

 

Die Einzigkeit und Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche

 

»Jesus Christus ist der Herr.« Ein Vortrag von Kardinal Joseph Ratzinger vorm Hintergrund der Erklärung Dominus Jesus, gehalten am 30. November 2002 auf Einladung der spanischen Bischofskonferenz anläßlich eines internationalen christologischen Kongresses zu Murcia

 

»Dominus Jesus« – mit diesen Worten beginnt das im Jahr 2000, dem großen Jubiläumsjahr der Geburt Jesu Christi aus der Jungfrau Maria, veröffentlichte Dokument, mit dem die Glaubenskongregation des Heiligen Stuhls mitten in einer vom Relativismus geprägten Welt ein feierliches Bekenntnis zur Einzigkeit und Heilsuniversalität Jesu Christi und seiner Kirche ablegen wollte. Die Kongregation griff damit auf das Urbekenntnis der werdenden Kirche zurück, das Paulus in I Cor 12,3 überliefert hat, als ein Wort, das uns vom Heiligen Geist geschenkt wurde, Wort des Heiligen Geistes ist. Es steht für ihn als Ausdruck einer Wahrheit da, die wir nicht erfinden, sondern nur finden, nur von dem geschenkt bekommen können, der selbst das Licht und der innere Grund alles Sehens und Erkennens ist. Diese paulinische Bekenntnisformel ist in der Sache Übernahme und Wiederholung eines Bekenntnisses, das im Neuen Testament als Ursprung der christlichen Bekenntnistradition überhaupt angesehen wird – das Bekenntnis des Petrus, das in der marcinischen Fassung einfach lautet: »Du bist der Christus (der Messias)« (Mc 8,29).

 

Das Bekenntnis der Kirche zu Jesus als dem Herrn

 

Wie Paulus seine Bekenntnisformel als Gabe des Heiligen Geistes und nicht als Ausdruck menschlicher Interpretation ansieht, so sagt auch Jesus im matthæischen Paralleltext zum petrinischen Bekenntnis: »Nicht Fleisch und Blut haben dir das offenbart, sondern mein Vater, der im Himmel ist« (Mt 16,17). Beide Male wird so der Offenbarungscharakter des Bekenntnisses herausgehoben, in dem sich eine Erkenntnis auftut, die mehr ist als menschliche Erfahrung und ihre Deutung, nämlich eine neue, den Menschen aus Eigenem nicht zugängliche, sondern von oben geschenkte Einsicht, eben „Offenbarung“.

 

Die paulinische und die petrinische Bekenntnisformel unterscheiden sich in zwei Punkten. Die petrinische Form ist Anrede an Jesus, ist »Gebet«; die paulinische Formel ist ein geistgegebenes Credo, das die Gemeinde im Gottesdienst vor Gott spricht, aber doch auch vor die Welt hinstellt als Ausdruck ihrer Identität und als Kern dessen, was sie der Menschheit zu sagen hat. Dazu kommt das zweite: Der Würdetitel Christus (Messias, König), in dem Petrus – von Gott erleuchtet – das Geheimnis Jesu Christi zusammenzufassen versucht, ist der an die Gestalt Davids anknüpfenden Hoffnung des leidenden und gedemütigten Israel entnommen, es werde ein neuer David, ein endgültiger König kommen, auf den die Worte des Krönungspsalms zutreffen würden: »Mein Sohn bist du. Heute habe ich dich gezeugt« (Ps 2,7).

 

Jesus selbst hat diesen Titel vermieden, weil er – obgleich im Kern der Hoffnung Israels verankert – allzusehr Mißdeutungen ausgesetzt war. So ist denn die einfache Markusformel des Bekenntnisses bei Lukas bereits etwas verdeutlicht durch die Hinzufügung: Du bist der Christus Gottes (Lc 9, 20) und bei Matthäus ausgeweitet zu der Formel: »Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes« (Mt 16, 16). Bei Paulus ist der mißverständliche Begriff „Christus – Messias“ ersetzt durch das Wort „Kyrios – Herr“, das im griechischen Alten Testament den nicht mehr auszusprechenden Gottesnamen ersetzt und so die Identifizierung Jesu mit Gott, seine wahre Göttlichkeit, ganz klar zum Ausdruck bringt.

 

Wie die griechische Übersetzung des Alten Testaments durch die Ablösung des Gottesnamens mit dem Wort Herr den biblischen Gottesglauben unmißverständlich in die heidnische Welt hineingetragen und den monotheistischen Charakter dieses Glaubens gegenüber den vielen Göttern mit ihren individuellen Namen erst vollends ins Licht gesetzt hatte, so ist hier ein gleicher Übertragungsvorgang zu beobachten. Der Schritt, den die griechische Version des Alten Testaments in der Klärung des Gottesgedankens vollzogen hatte, wird nun im Bereich der Christologie noch einmal getan. Es wird geklärt, was die Bezeichnung Jesu als Christus meint: eben daß er der Herr ist, selbst Gott von Gott und nicht bloß ein gottbegnadeter Mensch.

 

Bilder des „historischen Jesus“ und ihre Herkunft

 

Die synoptische Überlieferung mit dem Petrusbekenntnis bei Cæsarea Philippi hilft uns, den Zusammenhang dieses christlichen Grundbekenntnisses mit unserer Gegenwart zu finden und so auch den Auftrag zu klären, vor den die Christen heute sich gestellt sehen. Nach der synoptischen Erzählung hatte Jesus die Jünger zuerst gefragt, wofür »die Leute« ihn denn nun hielten. Die Antwort lautete: Die einen halten dich für Johannes den Täufer, andere für Elias, wieder andere für Jeremias oder einen der Propheten. Von diesen Meinungen der Leute, die aus der eigenen Interpretation des Phänomens Jesus kam, hebt sich dann die Offenbarungserkenntnis ab, die Petrus namens der Jünger ausspricht. „Die Leute“ denken heute über Jesus nicht anders als damals, und soweit es nur auf unsere eigenen Ideen ankommt, sind wir alle solche „Leute“.

 

Bezeichnend ist da zum Beispiel Karl Jaspers, der Jesus neben Sokrates, Buddha und Konfuzius als einen der vier »maßgebenden Menschen« ansieht. Die Meinungen, die die Menschen aus Eigenem über Jesus heute entwickeln, finden wir mit dem Aufwand wissenschaftlicher Interpretationsmethoden vor allen Dingen in den Bildern des »historischen Jesus«, die die kritische Exegese seit Reimarus (1694 - 1768) vorgelegt hat. Zwar hatte schon zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts Albert Schweitzer gesagt: »Es gibt nichts Negativeres als das Ergebnis der Leben-Jesu-Forschung  … Es ist der Geschichte nicht gegeben, das Bleibende und Ewige des Wesens Jesu von den geschichtlichen Formen, in denen es sich ausgebildet hat, abzulösen …«. Aber seine Kritik drang nicht tief genug, und so ist auch nach ihm die Konstruktion des historischen Jesus weitergegangen und hat sich an die Stelle der lebendigen Gestalt gesetzt, die freilich in der Tat nicht mit historischen Methoden allein, sondern nur im Glauben erkannt werden kann – in einem Glauben, der die Geschichte nicht beiseite schiebt, sondern erst die Augen öffnet, um sie ganz verstehen zu können.

 

Die Wissenschaftsgläubigkeit, die zu den Kennzeichen unserer Zeit gehört, bringt es mit sich, daß nach wie vor die wechselnden Bilder des historischen Jesus das Meinen „der Leute“ formen und zugleich mit dem ganzen Anspruch der autonomen Vernunft den Zugang zum Glauben versperren. Dabei ist leicht zu erkennen, daß für die Konstruktion der Gestalt des historischen Jesus wirklich gilt, was Goethes Faust dem wissenschaftsgläubigen Wagner entgegenhält: »Was ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist im Grund der Herren eigner Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln.«

 

Da steht am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts das Jesusbild der liberalen Theologie, das sich in Harnacks »Wesen des Christentums« eindrucksvoll gezeichnet findet. Für Harnack ist wesentlich, daß Jesus an die Stelle des Kults die Moral setzt und an die Stelle des Kollektivs den Einzelnen. Jesus ist wesentlich Individualist und Moralist: »Jesus hat immer nur den Einzelnen im Auge und die stetige Gesinnung des Herzens in der Liebe.« »Das Evangelium ist in den Merkmalen, die wir in den früheren Vorlesungen angegeben haben, erschöpft und nichts Fremdes soll sich eindrängen: Gott und die Seele, die Seele und ihr Gott.«

 

Ein halbes Jahrhundert später hat Bultmanns existentialistischer Jesus weithin das Denken bestimmt. Nur ein Zitat möge die merkwürdige inhaltliche Leere und zugleich die fromme Leidenschaft illustrieren, die sich in diesem Jesusbild ausdrückt: »In diesem Sinne ist Jesu Gottesgedanke entgeschichtlicht. Und der unter diesem Gottesgedanken gesehene Mensch ist entgeschichtlicht; das heißt, das Verhältnis von Gott und Mensch ist den Bindungen an die Weltgeschichte entnommen … Für Jesus … wird der Mensch entweltlicht durch den ihn direkt treffenden Anspruch Gottes, der ihn aus jeder Sicherheit herausreißt und ihn vor das Ende stellt. Und Gott ist entweltlicht, indem sein Handeln als eschatologisches Handeln verstanden wird: Er holt den Menschen aus den weltlichen Bindungen heraus und stellt ihn direkt vor sein Auge.«

 

Moltmanns »Theologie der Hoffnung« (1966) leitet dann wieder ein neues Jesusbild ein, das ganz auf Zukunft und Verheißung ausgerichtet ist: »Christuserkenntnis wird so zur vorgreifenden, provisorischen und fragmentarischen Erkenntnis seiner Zukunft, nämlich dessen, was er sein wird.« Was bei Moltmann noch in großem theologischen Ernst gedacht ist, degeneriert dann bald zum marxistischen Jesus, zu Jesus dem Revolutionär, der als Kämpfer für die politische und soziale Befreiung stirbt: Jesus wird mit Barabbas beziehungsweise Bar Kochba verwechselt. Inzwischen gibt es wieder neuere Jesusbilder, die Jesus in die New-Age-Ideen einreihen und ihn von dort her gegenwärtig machen wollen.

 

Wie aber kommt es zu diesen Jesusbildern? Sie setzen sich aus zwei Komponenten zusammen. Die eine Komponente ist die Analyse der Evangeliumstexte mit den Mitteln historischer Kritik. In diese Kritik ist freilich eine philosophische Voraussetzung von großer Tragweite eingebaut. Es wird nämlich vorausgesetzt, daß Geschichte grundsätzlich immer gleichartig ist und daß es daher in ihr nur das geben kann, was aus den uns bekannten Ursachen der Natur wie des menschlichen Handelns heraus möglich ist. Abweichungen davon, also Eingriffe göttlicher Macht, die über das immer wirkende Handlungsgeflecht hinausgehen, können daher nicht historisch sein; der Historiker muß „erklären“, wie es zu solchen Vorstellungen kommen konnte. Er muß aus den literarischen Formen wie aus dem Vorstellungsgefüge einer Zeit verständlich machen, wie solche Ansichten sich bilden konnten und sie in den Raum der Vernunft zurückführen. So werden diese Berichte nach der Kritik verständlich, und ihr wirklicher Gehalt kommt zum Vorschein.

 

Dieser Voraussetzung gemäß ist es nicht möglich, daß ein Mensch wirklich Gott ist und Taten vollbringt, die göttliche Macht erfordern und den allgemeinen Ursachenzusammenhang sprengen würden. Demgemäß müssen Worte göttlichen Anspruchs, die Jesus zugeschrieben werden, und entsprechende Taten „erklärt“ werden; man muß zeigen, wie sich entsprechende Berichte bilden konnten und sie auf ihren „historischen“ Kern zurückführen.

 

Von diesem Bemühen her ist ein immer schwieriger gewordenes Geflecht von Quellenhypothesen und überlieferungsgeschichtlichen Konstruktionen entstanden, das durch seine angestrengte Wissenschaftlichkeit beeindruckt, aber auch durch seine Widersprüche fragwürdig erscheint. Die Überzeugung indes, daß „die Wissenschaft“ uns heute sage, daß alles, was an der Gestalt Jesu das bloß Menschliche überschreitet, historisch „erklärbar“ und eben nicht wirklich historisch sei, hat sich dem öffentlichen Bewußtsein nachdrücklich eingeprägt, bis tief in die Gemeinde der Gläubigen in allen Kirchen hinein.

 

Bei den Bildern des historischen Jesus tritt zu dieser ersten Komponente – der historischen Methode mit ihren philosophischen Implikationen – ein zweites Element hinzu. Die Textanalysen rücken Jesus in die Vergangenheit; der Jesus der Quellenkritik spricht nicht mit uns und sagt uns nichts. Weil aber doch Jesus als gegenwärtige Gestalt gesucht wird, werden in einem zweiten Gedankengang die Ideen und Ideale einer Zeit mit dieser Gestalt verbunden. Dieses Bedürfnis ist freilich den historischen Analysen nicht einfach nachgeordnet, es wirkt prägend auf deren inneren Gang ein und ist in Wirklichkeit eine zweite philosophische Voraussetzung in der scheinbar rein historischen Arbeit selbst. Die Echtheits- oder Unechtheitserklärungen von Worten Jesu, die Bestimmung der Entwicklungsgänge und die Beurteilung der literarischen Formen hängen wesentlich davon ab, was an der Gestalt Jesu als vergegenwärtigungsfähig erscheint. Etwa von der Idee des revolutionären Jesus, des »befreiungstheologischen« Jesus her, fallen einerseits ganze Textkomplexe dahin und werden andere Elemente zentral, ja erscheinen als Andeutungen verlorenen Gutes und fordern Umdeutungen des Textbefundes heraus. Die vorausgesetzte Idee dessen, was Jesus nicht sein kann – Sohn Gottes – und dessen, was er sein sollte, werden selbst zu Instrumenten der Interpretation und lassen schließlich als Folge historischer Strenge erscheinen, was in Wirklichkeit lediglich Ergebnis philosophischer Voraussetzungen ist.

 

Nun ist die Voraussetzung der Gleichheit der wirkenden Ursachen als Prinzip historischer Kritik im Allgemeinen durchaus berechtigt; mittelalterliche Heiligenlegenden wie alte Wundergeschichten sind auf diese Weise auf ihren wahren Kern zurückgeführt und ein realistisches Bild der geschichtlichen Ereignisse entwickelt worden. Aber die im allgemeinen berechtigte Voraussetzung, daß Berichte von Einbrüchen des ganz Anderen in den Zusammenhang der Weltgeschichte kritisch zu betrachten sind, wird dann fatal und gefährlich, wenn sie zu einem immer gültigen Ausschluß des ganz Anderen – Gottes – wird, der unsere gewöhnlichen Erfahrungen überschreitet.

 

Aber gerade dies ist unsere Situation. Unsere Art von Wissenschaftlichkeit verbietet Gott den Zugang zur Welt. Für den Bereich der Naturwissenschaften hat Jacques Monod dieses Prinzip drastisch formuliert: »Grundpfeiler der wissenschaftlichen Methode ist das Postulat der Objektivität der Natur. Das bedeutet die systematische Absage an jede Erwägung, es könne zu einer „wahren“ Erkenntnis führen, wenn man die Erscheinungen durch eine Endursache, das heißt durch ein „Projekt“ deutet.« Über die von ihm so definierte Objektivitätsforderung sagt er uns dann: Sie »ist ein reines, für immer unbeweisbares Postulat, denn es ist offensichtlich unmöglich, ein Experiment zu ersinnen, durch das man die Nicht-Existenz eines Projekts … beweisen könnte … Die Objektivität selbst zwingt uns aber, den teleonomischen Charakter der Lebewesen anzuerkennen und zuzugeben, daß sie in ihren Strukturen und Leistungen ein Projekt verwirklichen. Hier ist also, zumindest scheinbar, ein tiefer, erkenntnistheoretischer Widerspruch.«

 

Monod hat im Bereich der Natur diesen Widerspruch durch die These aufzulösen versucht, daß das ganze Konzert der belebten Natur aus störenden Geräuschen hervorgegangen sei. Einzig dem unbeweisbaren Postulat der Nicht-Existenz eines Projekts folgend, das er für die Grundlage aller Wissenschaftlichkeit hält, hat Monod diese unsinnige These auf sich genommen. Im Bereich der Geschichte ist der Widerspruch wohl nicht so augenscheinlich. Aber gerade vor der Gestalt Jesu kommt man in Wirklichkeit zu einem ähnlichen Widerspruch, wenn man das „Objektivitätsprinzip“, das heißt den Ausschluß jeder Möglichkeit göttlichen Handelns in der Geschichte radikal durchhalten will. Die widersprüchlichen Bilder des historischen Jesus sind im Raum der Geschichte Ausdruck der Unsachlichkeit eines über seine Grenzen hinausgetriebenen Objektivitätsprinzips. Denn nun sind es auch hier „störende Geräusche“, zufällige Entwicklungen und Kombinationen, die das Geheimnis der Gestalt Jesu hervorgebracht haben, wie es das Neue Testament uns vorstellt und wie es im Glauben der Jahrhunderte zu einer Straße des Lichts für die Menschen geworden ist.

 

Wenn das „Objektivitätspostulat“ uneingeschränkt gilt, kann alles, was mit Gott und seinem Erscheinen in der Geschichte zu tun hat, nur in die Erfahrungen und Empfindungen des Subjekts verlegt werden. Es ist dann „subjektiv“, wobei die Frage der Wirklichkeitsart unbeantwortet bleibt, die im „Subjektiven“ vorliegen soll. Dann kann Jesus nicht Gott sein, sondern dann hat er eine besondere Gotteserfahrung gemacht. Denn unter dieser Voraussetzung gibt es kein wirkliches Handeln Gottes in der Welt und folglich auch kein wirkliches Sprechen Gottes, keine „Offenbarung“ im eigentlichen Sinn. Es gibt dann nur (subjektive) Erfahrungen religiös besonders empfänglicher Menschen und rätselhafte, fragmentarische Reflexe einer Wirklichkeit, an die wir uns anzuhalten versuchen, die aber doch nicht Einbruch dieser Wirklichkeit selbst sein können. Es gibt Lichter, aber nicht das Licht, Wörter, aber nicht das Wort. In dieser Situation ist der religiöse Relativismus unausweichlich.

 

Dann kann man sehr wohl zugeben – wie es heute auch außerhalb des Christentums geschieht –, daß Jesus eine Gestalt großer religiöser Erfahrungen ist, ein Erleuchteter und Erleuchtender. Aber seine Erfahrung bleibt doch ein Fragment, und neben ihr stehen andere Erfahrungen, andere Erleuchtungen, die wir nie zu einem Ganzen zusammenzusetzen vermögen und die letztlich so irgendwie gleichberechtigt sind, vielleicht sich auch irgendwie ergänzen. Dann bleibt nur, aus all diesen Erfahrungen sich das jeweils dem Einzelnen am meisten Zugängliche und Hilfreiche herauszusuchen: Die Subjektivität und vielleicht das Kalkül der Ergebnisse bilden dann die letzte Instanz in Sachen Religion. Jesus als den einzigen und universalen Heilsbringer anzusehen, wird dann zu blanker Anmaßung.

 

Glaube und Nachfolge als Zugang zum wirklichen Jesus

 

Das eigentliche Problem auf der Suche nach Jesus, dem wirklichen Jesus, ist die Gottesfrage, oder genauer: die Abwesenheit Gottes in unserer Welt, die „Gotteskrise“, wie Johannes Baptist Metz es genannt hat. Wenn wir aus ihr nicht herauskommen, werden wir auch Jesus nicht finden. Niemand kann zu Jesus kommen, wenn ihn nicht der Vater zieht, sagt Jesus im Johannesevangelium (6,44); diesen theologischen Satz kann man bis zu einem gewissen Punkt heute auch empirisch verifizieren. Wenn wir Gott den Vater kennen lernen, so wie Jesus ihn dargestellt hat, dann leuchten seine Worte plötzlich in einem ganz anderen Licht, dann wird das alles sinnvoll und glaubhaft, dann führt uns der Vater zum Sohn, wie uns vorher der Sohn zum Vater geführt hat. Wir müssen uns allen Ernstes wieder der Frage stellen: Gibt es Gott, und ist er wirklich Gott, das heißt fähig, in der Welt zu handeln und uns in Beziehung zu sich zu setzen? »Mein Vater wirkt bis heute«, sagt Jesus im Johannesevangelium und stellt sich damit dem deistischen Gottesbild entgegen, dem zufolge sich Gott nach dem Big Bang zurückgezogen hat und nun nicht mehr handeln kann (Jo 5,17). Genau um diese Frage geht es: Gibt es den handelnden Gott, oder gibt es ihn nicht? Ist Gott Gott, oder ist er es nicht? Monod hat gesagt, das Objektivitätsprinzip sei das Prinzip aller Wissenschaft, aber selbst nicht mehr begründbar. Nun gut, auch die Frage, ob es einen wirkenden Gott gibt oder nicht, ist nicht mehr letztlich begründbar. Monod rechtfertigt das Objektivitätsprinzip mit seinen wissenschaftlichen Erfolgen. So steht es ganz ähnlich um den Entscheid für Gott: Er ist letztlich ein Entscheid für die Vernunft und ein Entscheid darüber, ob das Gute und das Böse, Wahrheit und Unwahrheit bloß subjektive Kategorien oder Wirklichkeit sind. In diesem Sinn steht am Anfang der Glaube, aber ein Glaube, der erst der Vernunft ihre Würde und ihre Weite gibt.

 

Denken und Existenz sind in den letzten Fragen für den Menschen nicht mehr zu trennen. Die Entscheidung für Gott ist eine Entscheidung des Denkens und des Lebens zugleich – beides bedingt sich gegenseitig. Augustinus hat diesen Zusammenhang in seiner Bekehrungsgeschichte dramatisch geschildert. Er spricht von den verfehlten Lebensformen eines ganz auf das Materielle gerichteten Daseins – Formen, die zu Gewohnheiten werden, Gewohnheiten, die zu Notwendigkeiten und schließlich zu Fesseln werden, ja zur Erblindung des Herzens. Er spricht von den Versuchen auszubrechen und den Weg auf Gott, den handelnden Gott, frei zu bekommen und vergleicht dies mit der Situation eines Träumenden, den sein Traum gefangen hält, der aufzuwachen und auszubrechen versucht und doch immer wieder in die Welt des Träumens zurücksinkt. Er spricht davon, daß er sozusagen sich hinter seinem eigenen Rücken versteckt hatte und davon, wie Gott ihn durch das Wort des Freundes aus seinem Versteck herausholte, so daß er sich selbst ins Gesicht sehen mußte. Zu einer neuen Erkenntnis gehört ein erneuertes Leben, das unseren verschlossenen Horizont wieder öffnet. Deshalb hat die alte Kirche den Vorgang der Zuwendung zum Glauben zwar durchaus als einen intellektuellen Weg angesehen, in dem der Mensch mit der »Lehre der Wahrheit« und ihren Argumenten konfrontiert wird, aber auch eine neue Lebensgemeinschaft erhält, in der ihm neue Erfahrungen und innere Öffnungen möglich werden.

 

Neue Formen des Katechumenats sind gerade in unserer Zeit dringend notwendig: Der Erkenntnisweg zu Gott und zu Christus ist ein Lebensweg. Biblisch ausgedrückt: Um Christus zu erkennen, ist Nachfolge nötig. Nur dann erfahren wir, wo er wohnt. Auf die Frage »Wo wohnst du?« (Wer bist du?) lautet seine Antwort immer wieder: Kommt, und ihr werdet sehen (Jo 1,38 f). Die Jünger konnten deshalb auf die Frage nach Jesus eine andere Antwort geben als „die Leute“, weil sie in Lebensgemeinschaft mit ihm standen. Nur so werden wir – um mit Platon zu sprechen – aus der „Höhle“ herausgeführt, die wir für die Welt halten und die doch nur ein beschränkter Teil davon ist.

 

»Niemand hat Gott je gesehen. Der einzige, der Gott ist und am Herzen des Vaters ruht, er hat uns Kunde gebracht«, sagt das Johannesevangelium (1,18). In der Tat – niemand hat Gott gesehen. Die Schauungen der großen Erleuchteten der Religionsgeschichte bleiben doch immer Schauungen von ferne, »in Schatten und Bildern«. Nur Gott kennt sich selbst ganz. Nur Gott sieht Gott. Und daher konnte nur der, der Gott ist, wirklich Kunde bringen von ihm und die widersprüchlichen Schauungen zur Ganzheit zusammenfügen – auch wenn freilich das in menschlichem Worte Gesagte immer nur von ferne den Glanz des uns unfaßbaren, uns blendenden Lichts der Wahrheit Gottes selbst wiedergeben kann. Aber der Unterschied zwischen dem, was der Sohn sagt, der am Herzen des Vaters ruht, und den fernen Schauungen der Erleuchteten bleibt abgründig, ist wesenhaft. Nur Er ist Gott, alle anderen tasten von ferne nach Gott. Nur er kann sagen: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben«, alle anderen mögen Stücke des Weges zeigen, aber sie sind nicht der Weg.

 

Vor allem: In Jesus Christus sind Gott und Mensch, der Unendliche und das Endliche, der Schöpfer und das Geschöpf ineinandergefügt. Der Mensch hat Platz in Gott gefunden. Die Überschreitung des unendlichen Abstands zwischen Schöpfer und Geschöpf kann nur er selbst bewirken. Nur der, der Mensch ist und Gott ist, ist die Brücke des Seins vom einen zum anderen. Und daher ist er es für alle, nicht nur für einige. So wie die Wahrheit für alle nur eine ist, so kann auch nur Gott selbst, der Eine, die Brücke von sich selbst zu sich selbst und von sich selbst zum Menschen und zurück zu Gott sein: in der Menschheit des Sohnes.

 

Recht zur Mission?

 

Aber nun steht noch einmal eine gewichtige Frage auf: Ist es nicht Anmaßung, in Sachen Religion von Wahrheit zu sprechen, gar zu behaupten, in der eigenen Religion die Wahrheit erkannt zu haben, die eine, die zwar Wahrheitserkenntnis bei anderen nicht außer Kraft setzt, aber die versprengten Stücke zur Einheit zusammen sammelt? Heute ist es zu einem Slogan von unwiderstehlicher Durchschlagskraft geworden, diejenigen als zugleich einfältig und arrogant abzuweisen, denen man nachsagen darf, sie glaubten, die Wahrheit zu „haben“. Solche Leute, so scheint es, sind dialogunfähig und letztlich nicht ernst zu nehmen. Die Wahrheit „habe“ eben niemand. Wir alle könnten immer nur auf der Suche sein. Aber – so muß man dagegen fragen – was ist das für eine Suche, die nie ankommen darf? Sucht sie wirklich, oder will sie in Wahrheit gar nicht finden, weil es das Gefundene nicht geben darf? Und ist das Denken derer nicht in Wirklichkeit zur Karikatur entstellt, denen man nachsagt, daß sie meinen, die Wahrheit zu „haben“?

 

Natürlich kann die Wahrheit keine Habe sein; das Verhältnis zu ihr muß immer demütige Annahme sein, die um die eigene Gefährdung weiß und Erkenntnis als Geschenk annimmt, dessen ich unwürdig werden kann, dessen ich mich nicht rühmen darf, als sei es meine eigene Sache. Wenn es mir gegeben ist, so ist es Verantwortung, die mich auch für den anderen in Dienst nimmt. Außerdem sagt auch der Glaube, daß die Unähnlichkeit zwischen dem von uns Erkannten und der eigentlichen Wirklichkeit in sich selbst immer unendlich größer ist als die Ähnlichkeit (Lateranense IV, DS 806).

 

Aber diese unendliche Unähnlichkeit macht doch Erkenntnis nicht zur Nichterkenntnis, Wahrheit nicht zur Unwahrheit. Mir scheint, man müsse die Sache mit der Anmaßung umkehren: Ist es nicht Anmaßung zu sagen, Gott könne uns nicht das Geschenk der Wahrheit machen? Er könne uns die Augen nicht öffnen? Ist es nicht eine Verachtung Gottes zu sagen, wir seien nun einmal blind geboren, und Wahrheit sei nicht unsere Sache? Ist es nicht eine Degradierung des Menschen und seiner Sehnsucht nach Gott, uns nur als ewig im Dunkel Tastende anzuerkennen? Und damit geht dann Hand in Hand die wirkliche Anmaßung, daß wir eben selber Gottes Stelle einnehmen und bestimmen möchten, wer wir sind und was wir tun und aus uns und der Welt machen wollen.

 

Im Übrigen schließen sich Erkenntnis und Suchen nicht aus. Es gibt bei Gregor von Nyssa wie bei Augustinus herrliche Stellen, die die Unendlichkeit von Gottes Größe herausstellen und sagen, daß alles Finden tieferes Suchen auslöst und daß es unsere ewige Freude sein wird, Gottes Antlitz zu suchen, das heißt in immer neuem freudigen Entdecken unendlich ins Unendliche hinein zu wandern und so das Abenteuer der ewigen Liebe als Antwort auf unseren Durst nach Glück zu empfangen.

 

Freilich, den Nichtchristen gegenüber mag unser Glaube, daß Jesus nicht ein Erleuchteter bloß, sondern der Sohn, das Wort selber ist, auf das alle anderen Erleuchtungen und alle anderen Wörter zugehen, als Anmaßung erscheinen. Um so dringlicher ist es, daß wir solche Erkenntnis nicht als unsere Leistung ansehen, sondern der Wahrheit treu bleiben, daß die Begegnung mit dem Wort auch für uns nur Geschenk ist, das uns gegeben wurde, damit wir es weitergeben, umsonst, wie wir es empfangen haben. Gott hat eine Wahl getroffen, die einen für die anderen und alle füreinander eingesetzt, und wir können nur in Demut uns als unwürdige Boten erkennen, die nicht sich selber verkündigen, sondern mit heiliger Scheu von dem sprechen, was nicht das Unsrige ist, sondern von Gott kommt.

 

Nur so wird auch der Missionsauftrag verständlich. Er kann nicht geistigen Kolonialismus bedeuten, Unterwerfung der anderen unter meine Kultur und meine Ideen. Das Modell der Mission ist im Weg der Apostel und der frühen Kirche, vor allem in den Sendungsreden Jesu klar vorgezeichnet. Mission verlangt zuallererst Martyriumsbereitschaft, Bereitschaft, sich selbst um der Wahrheit willen und der anderen willen zu verlieren. Nur so wird sie glaubwürdig; dies war immer wieder die Situation der Mission und wird es immer wieder sein. Denn nur dann wird der Primat der Wahrheit aufgerichtet. Und dann ist auch die Idee der Anmaßung von innen her überwunden.

 

Die Wahrheit kann und darf keine andere Waffe haben als sich selbst. Derjenige, der glaubt, hat in der Wahrheit die Perle gefunden, für die er alles andere zu geben bereit ist, auch sich selbst. Denn er weiß, daß er im sich Verlieren sich findet, daß nur das gestorbene Weizenkorn die große Frucht trägt. Derjenige, der glaubt und sagen kann »Wir haben die Liebe gefunden« – der muß das Geschenkte weitergeben. Er weiß, daß er damit niemanden vergewaltigt, niemandes Identität zerstört, Kulturen nicht zerbricht, sondern zu ihrer eigenen möglichen Größe freimacht; er weiß, daß er einer Verantwortung genügt: »Ein Zwang liegt auf mir. Wehe, wenn ich das Evangelium nicht verkünde!« (I Cor 9,16).

 

Lange vor Paulus hatte schon Jeremias aus ähnlicher Erfahrung heraus Ähnliches gesagt: »Das Wort des Herrn bringt mir den ganzen Tag Spott und Hohn. Sagte ich aber: Ich will nicht mehr an ihn denken und nicht mehr in seinem Namen sprechen, so war es mir, als brenne in meinem Herzen ein Feuer …« (Jer 20,9). Mir scheint, daß man letztlich von hier aus auch das Gleichnis von dem feigen Knecht verstehen muß, der das Geld seines Herrn aus Angst versteckt, damit er es heil wieder zurückgeben könne, anstatt wie die anderen Knechte das Geld arbeiten und so sich vermehren zu lassen.

 

Das uns geschenkte „Talent“, der Schatz der Wahrheit, darf nicht versteckt werden, er muß kühn und mutig ausgegeben werden, damit er wirke und – wechseln wir das Bild – als Sauerteig die Menschheit durchdringe und erneuere. Wir sind heute im Westen eifrig dabei, den Schatz einzugraben – aus Feigheit vor dem Anspruch, ihn in das Ringen unserer Geschichte hineinzustellen und dabei vielleicht zu verlieren – was schierer Unglaube ist –, wie auch aus Trägheit: Wir graben ihn ein, weil wir auch selber nicht davon behelligt sein wollen, weil wir ohne die Last seiner Verantwortung ungestört unser eigenes Leben leben möchten. Aber das Geschenk der Erkenntnis Gottes, das Geschenk seiner Liebe, die uns im geöffneten Herzen Jesu anblickt, sollte uns bedrängen, damit alle Enden der Erde das Heil Gottes schauen können (Is 52,10; Ps 98,3).

 

Die Stellung des Christusglaubens in der Religions- und Geistesgeschichte

 

Noch eine Frage ist zu stellen. Das menschgewordene Wort ist ja nicht in eine Welt hineingetreten, die schlechterdings nichts davon wußte. Es hat seine Strahlen vorausgesandt in die Welt hinein, und es hat so die Sehnsucht der Menschheit geweckt. Es ist das Licht, das jeden Menschen erleuchtet, der in die Welt kommt (Jo 1,9). Die Väter haben in diesem Zusammenhang von den »Samenkörnern des Wortes« gesprochen, die sie in der vorchristlichen Welt gesucht und gefunden haben. Dieser Begriff ist heute zu Recht zu einem Zentralgedanken bei der Suche nach der rechten Verhältnisbestimmung zwischen christlichem Glauben und Weltreligionen geworden. Wenn man ihm allerdings genauer nachgeht, stößt man auf etwas Unerwartetes, das – soweit ich sehen kann – fast in allen einschlägigen Arbeiten ausgeblendet wird.

 

Die Väter haben die Samenkörner des Wortes nicht in den Religionen der Welt gefunden, sondern in der Philosophie, das heißt im Prozeß der kritischen Vernunft gegen die Religionen, in der Geschichte der voranschreitenden Vernunft, nicht in der Religionsgeschichte. Dort sahen die Väter die eigentliche Vorgeschichte des Christentums – dort, wo der Mensch aus Gewohnheiten und Überlieferungen aufgebrochen ist zum Logos, das heißt zum Verstehen der Welt und des Göttlichen aus der Kraft der Vernunft heraus. In diesem Sinn haben die Väter das Christentum nicht primär dem Bereich der Religion zugeordnet, nicht als eine der Religionen betrachtet, sondern es dem Prozeß der unterscheidenden Vernunft zugeordnet. Dabei ist in Klammern anzumerken, daß der Allgemeinbegriff „Religion“, mit dem wir heute die vielfältigsten Phänomene und unter anderem auch das Christentum benennen, erst im Lauf der Neuzeit gebildet wurde und als solcher eine problematische Verallgemeinerung darstellt, die schon in sich fragwürdige Vorentscheidungen enthält. Der Eigenart des christlichen Glaubens und seiner spezifischen Stellung in der Geistesgeschichte der Menschheit kommt man nicht nahe, wenn man diesen Sachverhalt überspringt. Das Christentum stellt sich in seinen Ursprüngen auf die Seite der um der Wahrheitssuche willen religionskritischen Vernunft und sieht sich primär von ihr vorbereitet.

 

Das bedeutet nun freilich nicht, daß es sich einfach als Philosophie gegen die Religionen einstufte, obwohl die Selbstbezeichnung des Christentums als wahre Philosophie zu den Grundlagen der alten Kirche gehört. Trotzdem irrte Karl Barth, wenn er behauptete, daß das Christentum überhaupt nichts mit Religion zu tun habe, so daß die ihm folgende Mode das „religionslose Christentum“ postulierte und schließlich auch den „Tod Gottes“ in ihr Repertoire aufnehmen konnte.

 

Nein, das Christentum hat in Formen der Gottesverehrung, in der Gestalt der Liturgie und in vielen Formen der Lebensführung (Mönchtum!) an die Religionen anknüpfen können, sich auch von den Orten her in die Kultkontinuität mit ihnen hineingestellt, gleichzeitig mit der Erneuerung der Inhalte, die es brachte. Das eindrucksvollste Beispiel solcher Kontinuität in der Verwandlung ist das Bild Unserer Lieben Frau von Guadalupe. Ihre Verehrung beginnt an dem Ort, an dem vorher ein bedeutendes Bild „unserer verehrten Mutter Frau Schlange“, einer wichtigen heimischen Göttin, gestanden hatte. Aber daß sie ihr Gesicht ohne Maske zeigt, bedeutet, »daß sie keine Göttin ist, sondern eine Mutter des Erbarmens; denn die indianischen Götter trugen eine Maske. Dieses wird durch das Symbol der Sonne, des Mondes und der Sterne weitergeführt und vertieft. Sie ist größer als die einheimischen Götter, weil sie die Sonne verdeckt, jedoch nicht auslöscht. Die Frau ist mächtiger als die höchste Gottheit, der Sonnengott. Sie ist mächtiger als der Mond, da sie auf ihm steht, ihn aber nicht zertritt …«

 

In den Formen und Symbolen, mit denen sie erscheint, ist der ganze Reichtum der vorangehenden Religionen aufgenommen und zur Einheit geführt von einer neuen Mitte, die von einer neuen Höhe herkommt. Sie steht sozusagen über den Religionen, zertritt sie aber nicht. Guadalupe ist so in vieler Hinsicht ein Bild für das Verhältnis des Christentums zu den Religionen: Alle ihre Ströme fließen in ihr zusammen, werden gereinigt und erneuert, aber nicht vernichtet. Es ist auch ein Bild für das Verhältnis der Wahrheit Jesu Christi zu den Wahrheiten der Religionen: Die Wahrheit zerstört nicht, sie reinigt und eint.

 

Das Christentum gehört nicht einfach in die Geschichte der Religionen, aber es gehört selbstverständlich auch nicht einfach in die Geschichte der Religionskritik, des sich selbst genügenden Verstandes. Die Väter haben bei ihrer Rede von der Vernünftigkeit des Christentums zwischen ratio, dem bloßen Verstand, und intellectus, der geistigen Sehfähigkeit des Menschen, unterschieden, die weiter reicht als der bloße Verstand. Eben das ist das Wesen von Weisheit – von Glauben, der Weisheit ist –, daß sie die Verengung des bloßen Verstandes aufsprengt und das weite Sehen wieder zu Kräften bringt, zu dem der Mensch berufen ist. Für den christlichen Glauben ist es kennzeichnend, daß er auf eine ganz neue Weise Vernunft und Religion zueinander in Beziehung setzt, um so den Menschen auf die Wahrheit auszurichten und Religion nicht in Gewohnheit versinken zu lassen, sondern unter dem Anspruch der Wahrheit zu leben.

 

Deswegen kann man als Christ niemals einfach sagen, jedermann solle eben in der Religion leben, die ihm durch seine geschichtlichen Umstände zugefallen ist, weil alle je auf ihre Weise Heilswege seien. So macht man die Religion in der Tat zur bloßen Gewohnheit und schließt sie ab von der Wahrheit. Sie endet dann im Bereich der Psychologie (subjektive Erfahrungen und Einstellungen) und der Soziologie (rituelle Gestaltung der gemeinschaftlichen Ordnungen), aber sie öffnet den Menschen nicht. Und vor allem: Sie führt die Menschen nicht zueinander, sondern haust sie gerade in den wesentlichen Fragen des Menschseins in ihre jeweiligen Überlieferungen ein und trennt sie daher voneinander.

 

Der Aufbruch zum christlichen Glauben ist möglich geworden, weil es in Israel Menschen des suchenden Herzens gab, die mit den geläufigen Gewohnheiten nicht zufrieden waren, sondern nach Größerem Ausschau hielten: Maria, Elisabeth, die Zwölf und all die anderen, die im Neuen Testament erscheinen. Die Heidenkirche ist möglich geworden, weil es sowohl im Mittelmeerraum wie im vorderen und mittleren Asien, wohin die Missionare kamen, wartende Menschen gab, die sich nicht mit dem Vorgefundenen begnügten, sondern den Stern suchten, der ihnen den Weg zum wahren Retter der Welt weisen sollte. Die Rede vom einzigen und universalen Heilsmittler Jesus Christus schließt keinerlei Verachtung der anderen Religionen ein, aber sie setzt sich entschieden der Resignation der Wahrheitsunfähigkeit und der bequemen Statik des Alles-bleiben-Lassens entgegen.

 

Sie appelliert an die allen Menschen eingesenkte Sehnsucht des Herzens, an die Sehnsucht, die auf das Größere, auf Gott selbst, auf die gemeinsame Wahrheit wartet. Dies geht übrigens auch die Christen an: Auch sie dürfen sich nicht mit einem Gewohnheitschristentum, mit bloßem Ritualismus und hergebrachten Gewohnheiten begnügen. Auch sie müssen immer wieder die Gewohnheit aufbrechen, um der Wahrheit zu begegnen, die in Jesus Christus Fleisch angenommen hat.

 

Christus und die Kirche

 

Mit alledem habe ich versucht, auf die Herausforderung des Themas »Die Einzigartigkeit und Heilsuniversalität Jesu Christi« zu antworten. Aber unser Thema ist zweiteilig. Es fügt hinzu: »und der Kirche«; es entspricht damit der Zweiteiligkeit der Erklärung »Dominus Jesus«. So müßte nun eigentlich noch ein zweiter Vortrag folgen, der dem Thema Kirche gewidmet wäre. Dazu bin ich jetzt nicht imstande, und es würde auch das Programm dieser Tagung sprengen. Vielleicht ist das aber auch nicht ganz so schlimm. Denn wenn die Einzigartigkeit Jesu Christi erkannt und angenommen ist, dann ergibt sich der Weg zur Kirche ganz von selbst. Zwar ist die Kongregation für die Glaubenslehre vielfach heftig dafür getadelt worden, daß sie ihrem Zeugnis für die Einzigkeit Jesu Christi noch einen ekklesiologischen Teil hinzugefügt hat; man sah darin einen ökumenischen Störfall oder gar einen »Betriebsunfall«.

 

Aber wer von Jesus Christus als dem Heilsmittler für alle, also auch für alle Zeiten redet, kann davon gar nicht schweigen, daß und wie Christus in der Geschichte immerfort im Präsens anwesend ist und nicht in der Vergangenheit stehenbleibt. Dieses christologische Präsens aber heißt Kirche. Kirche beruht darauf, daß Christus immerfort seine Verheißung einlöst: »Siehe, ich bleibe bei euch alle Tage, bis zum Ende der Welt« (Mt 28,20). Dieses Bleiben geschieht so, daß er sich immer einen Leib schafft, in dem er immerfort Menschen sammelt, in denen seine Leibhaftigkeit weitergeht. Er ist eben nicht nur der Christus gestern, sondern ist Christus heute und in Ewigkeit (Hbr 13,8).

 

Wenn er aber einer ist, dann kann dieser „Leib“ nur wiederum einer sein – trotz der Zerrissenheit, in der er empirisch erscheint. Und diese Einheit kann dann nicht Utopie sein oder ins Eschatologische verlegt werden, sie muß dann auch in der Geschichte selbst sozusagen körperlich, eben leibhaft, da sein. Wenn es wiederum wahr ist, daß alles Heil mit ihm zu tun hat – in welcher Weise auch immer – und daß die Kirche von ihm nicht abtrennbar ist, dann ist klar, daß diese Kirche an seiner universalen Mittlerschaft teilhat und daß in jeder Beziehung zu ihm irgendwie auch die Kirche enthalten ist. Ich möchte schließen mit dem großen Christushymnus des Kolosserbriefes, in dem die weltumspannende Größe Christi, sein Gottsein und seine Menschheit wie seine allumfassende Heilsmittlerschaft einzigartig ausgesprochen ist: »Dankt dem Vater mit Freude! Er hat euch fähig gemacht, Anteil zu haben am Los der Heiligen, die im Licht sind. Er hat uns der Macht der Finsternis entrissen und aufgenommen in das Reich seines geliebten Sohnes. Durch ihn haben wir die Erlösung, die Vergebung der Sünden. Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene der ganzen Schöpfung. Denn in ihm wurde alles erschaffen, im Himmel und auf Erden, das Sichtbare und das Unsichtbare …; alles ist durch ihn und auf ihn hin geschaffen. Er ist vor aller Schöpfung, in ihm hat alles Bestand. Er ist das Haupt des Leibes, der Leib aber ist die Kirche. Er ist der Ursprung, der Erstgeborene der Toten; so hat er in allem den Vorrang …« (Col 1,12-18).

 

Fügen wir mit dem zweiten Petrusbrief als unsere Antwort hinzu: »Ihm – Christus – gebührt die Herrlichkeit, jetzt und bis zum Tag der Ewigkeit. Amen« (II Pt 3,18).

 

 

(Geändert von Ketelhohn um 13:33 - 6.März.2003)

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Ich finde es lustig, Robert, dass du diesen Text postest und drei Minuten später fragst: Habt ihr gemerkt, wie schön …

 

Damit bist du nahe am Accelerismus, mein Bruder in Christo!

 

Aber mittlerweile habe ich es gemerkt, und halte diesen Vortrag für bemerkenswert. Er gibt allerdings Stoff für zahlreiche Diskussionsfäden … und ist eine Einladung, es doch mal wieder mit der unvoreingenommmenen Lektüre von Dominus Jesus zu versuchen. Auch mal mit dem ersten Teil.

 

Ist ja vielleicht kein Zufall, dass Ratzinger so ausführlich auf die Heilsuniversalität Jesu eingegangen ist, und die Frage nach dem Heilsanspruch der Kirche nicht mehr behandeln konnte.

 

Aber wer von Jesus Christus als dem Heilsmittler für alle, also auch für alle Zeiten redet, kann davon gar nicht schweigen, daß und wie Christus in der Geschichte immerfort im Präsens anwesend ist und nicht in der Vergangenheit stehenbleibt. Dieses christologische Präsens aber heißt Kirche.

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