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Geschrieben

Wahrscheinlich assoziieren die meisten hierzulande mit diesen beiden Wörtern Dinge wie Aufklärung und Mitgliederschwund. Darum soll es hier auch gehen, aber nicht nur. Mir geht es um eine Verhältnisbestimmung dieser beiden Phänomene, darum wie der Zeitgeist den Glaube beeinflusst und der Glaube den Zeitgeist - und zwar nicht nur in unserer Zeit, sondern zu allen Zeiten, und darum, ob wir aus der Vergangenheit etwas für die Gegenwart lernen können. 

 

Ein nahe liegender Ansatzpunkt dabei scheint mir das Schrifttum zu sein. Zum Beispiel die Frage: Warum endete die Fortschreibung der Bibel - auf der einen Seite die des Alten Testaments - auf der anderen Seite die des Neuen Testaments? Hatte das Bedürfnis die Heiligen Schriften zu kanonisieren etwas mit dem Zeitgeist zu tun? Davor war das anscheinend kein Thema gewesen, es wurde ständig an den Schriften weitergearbeitet. Die Schriftfunde von Qumran belegen diese Tradition.

 

Die Juden beklagten irgendwann, dass es keine Propheten (= Autoren) mehr gibt, die Christen machten aus den alttestamentlichen Schriften der Propheten, ihre Geschichtsbücher. Die Juden verwarfen die Septuaginta, und damit Jahrhunderte ihrer eigenen Fortschreibung, die Christen behielten zunächst noch die Spät- bzw. Deuterokanonischen Schriften in ihrem Kanon - ich vereinfache grob und holzschnittartig. 

 

Was mir auffällt ist, dass um die Zeit zu Beginn unserer Zeitrechnung das Geschichtenerzählen und die Geschichtsschreibung, wie soll ich sagen, nicht mehr so gut miteinander harmonierten, nicht mehr Hand in Hand gingen, sich irgendwie auseinanderlebten. Irgendwann wurde nur noch kommentiert, was kanonisiert worden war. Am meisten bedauere ich dabei das Aufhören des Geschichtenerzählens, denn die biblischen Geschichten, finde ich das Erbaulichste für meinen Glauben, während Kirchengeschichte eher abturnt.

 

Das wäre ein früher Aufhänger um die Beziehung von Zeitgeist und Glaube zu betrachten. Die Kirchengeschichte unterteilt man in bestimmte Epochen. Sind diese Epochen jeweils durch das jeweilige Verhältnis von Glaube und Zeitgeist charakterisiert, oder wie seht ihr das?                              

Geschrieben
vor 30 Minuten schrieb Weihrauch:

Ein nahe liegender Ansatzpunkt dabei scheint mir das Schrifttum zu sein. Zum Beispiel die Frage: Warum endete die Fortschreibung der Bibel - auf der einen Seite die des Alten Testaments - auf der anderen Seite die des Neuen Testaments? Hatte das Bedürfnis die Heiligen Schriften zu kanonisieren etwas mit dem Zeitgeist zu tun? Davor war das anscheinend kein Thema gewesen, es wurde ständig an den Schriften weitergearbeitet. Die Schriftfunde von Qumran belegen diese Tradition.

Die "Versteinerung" der beiden biblischen Kanones passierte in einer Phase massiver Umbrüche in denen die Bewahrung der "Wahrheit" anscheinend als entscheidend empfunden wurde.

 

Das Judentum wollte seine nach dem babylonischen Exil verschriftliche Identität bewahren und die christliche Orthodoxie wollte sich von Irr- und Wirrlehrern abgrenzen. Wären die anderen christlichen Gruppen nicht im Laufe der Zeit ausgemerzt worden, hätten wir heute nicht nur verschiedene Neue Testamente, sondern vermutlich auch verschiedene Fassungen der gleichen Texte mit unterschiedlichen Interpretationen. Z.B. beim Lukasevangelium eine Marcianische Fassung, eine Fassung ohne Geburtslegende und die heutige. Ähnlich Matthäus.

 

Wann welcher Text zuletzt geändert wurde, ist nicht immer nachvollziebar, aber dass selbst in den Briefen herumgepfuscht wurde, ist sprachwissenschaftlich nachweisbar.

 

Und im Grunde ist die "Kanonisierung" ja auch nicht wirklich abgeschlossen.

 

Im Judentum ist der Talmud entstanden um die Lücken in der Torah zu füllen, im Islam die Hadithen und im Christentum ganze Bibliotheken an ergänzender und lückenfüllender Literatur. Die Schriften eines Augustinus oder eines TvA sind in der Katholika heute doch im Grunde genauso autorativ wie die biblischen Bücher.

Geschrieben
vor 2 Stunden schrieb Weihrauch:

Ein nahe liegender Ansatzpunkt dabei scheint mir das Schrifttum zu sein. Zum Beispiel die Frage: Warum endete die Fortschreibung der Bibel - auf der einen Seite die des Alten Testaments - auf der anderen Seite die des Neuen Testaments? Hatte das Bedürfnis die Heiligen Schriften zu kanonisieren etwas mit dem Zeitgeist zu tun? Davor war das anscheinend kein Thema gewesen, es wurde ständig an den Schriften weitergearbeitet. Die Schriftfunde von Qumran belegen diese Tradition.


Über die Juden kann ich nichts sagen, aber die Kanonisierung der christlichen Bibel geht eindeutig einher mit der Verfestigung der kirchlichen Hierarchie. 

Geschrieben
vor 43 Minuten schrieb Marcellinus:

Über die Juden kann ich nichts sagen, aber die Kanonisierung der christlichen Bibel geht eindeutig einher mit der Verfestigung der kirchlichen Hierarchie. 

 

Hierarchien an sich sind in dieser Zeit keine Erscheinung des Zeitgeistes. Hierarchien gab es früher auch, aber Kanonisierungen in diesem Sinne so viel ich weiß noch nicht. Die Römer kamen vorher ohne Kanonisierung wunderbar aus, andere auch. Sowohl die Kanonisierung, vor allem aber auch das Christentum prägende Glaubensfragen wurden nicht von der Kirche sondern von politischen Herrschern entschieden, um ihre Macht zu festigen, weil ihnen das chaotische Christentum fürchterlich auf die Nerven gingen. Das Toleranzedikt des Galerius hatte ich kürzlich zitiert.

 

Die sieben ökumenischen Konzilien wurden von Kaisern einberufen, um Ordnung in der Kirche zu schaffen, wozu die dauernd zerstrittenen Bischöfe der Kirche anscheinend nicht in der Lage waren.

  1. Nicäa I von Kaiser Konstantin
  2. Konstantinopel I von Kaiser Theodosius I.
  3. Ephesus von Kaiser Theodosius II.
  4. Chalkedon von Kaiser Markian
  5. Konstantinopel II von Kaiser Justinian
  6. Konstantinopel III von Kaiser Konstantin IV.
  7. Nicäa II von Kaiserin Irene

Der Geist weht, wo er will. Die Tradition der Einigkeit der Kirche ist ein frommer Mythos, Kirchenspaltungen die Realität. 

Geschrieben

Die Kanonisierung der Heiligen Schriften ist kein einmaliges Ereignis, sondern ein Prozess, der sich über Jahrhunderte erstreckt und immer wieder neu interpretiert wird. Im Judentum etwa war die Festlegung des Tanach eine Reaktion auf die tiefgreifende Krise des babylonischen Exils. Die Verschriftlichung und spätere Kanonisierung dienten der Identitätsbewahrung in einer Zeit, in der die äußeren Strukturen – Tempel, Land, politische Autonomie – zerbrochen waren. Ähnliches gilt für das frühe Christentum: Hier war es die Auseinandersetzung mit inneren und äußeren Herausforderungen – von der Vielfalt der Gemeinden und Lehren bis hin zu politischen Machtfragen –, die zur Sammlung und Kanonisierung der Schriften führte. Die Diskussion um „Irrlehren“ und die Notwendigkeit, eine verbindliche Grundlage für den Glauben zu schaffen, sind Ausdruck eines Zeitgeistes, der nach Stabilität inmitten von Unsicherheit sucht.

 

Ein wichtiger Aspekt, der in der Diskussion angesprochen wird, ist die Rolle politischer und kirchlicher Macht bei der Kanonisierung. Die großen ökumenischen Konzilien, die maßgeblich zur Festlegung des christlichen Kanons beitrugen, wurden von Kaisern einberufen. Es ging dabei nicht nur um theologische Fragen, sondern immer auch um die Sicherung der Einheit des Reiches. Die Kanonisierung war also nie ein rein innerkirchlicher Prozess, sondern immer auch ein politischer Akt. Hier zeigt sich, dass Hierarchien zwar nicht neu waren, die Kanonisierung als Instrument zur Machtsicherung jedoch eine spezifische Antwort auf die Herausforderungen der Zeit darstellte.

Ein besonders nachdenklicher Punkt in der Diskussion ist das Bedauern über das Ende des „Geschichtenerzählens“. Mit der Kanonisierung wurde der kreative Umgang mit den Schriften eingeschränkt; die lebendige Tradition des Weitererzählens und Neuinterpretierens wich zunehmend der Kommentierung und Auslegung des Bestehenden. Dies ist einerseits verständlich – Einheit und Identität erfordern Grenzen –, andererseits geht damit aber auch eine gewisse Lebendigkeit verloren. Interessanterweise haben andere Religionen auf diese Spannung unterschiedlich reagiert: Im Judentum entstand der Talmud als „lebendiger Kanon“, im Islam die Hadith-Literatur, im Christentum eine reiche Tradition theologischer Schriften, die bis heute das Verständnis der Bibel prägen.

 

Was können wir aus dieser Geschichte lernen? Zunächst, dass der Prozess der Kanonisierung nie wirklich abgeschlossen ist. Auch heute noch wird darüber gestritten, wie verbindlich bestimmte Schriften oder Traditionen sind. Die Spannung zwischen Bewahren und Erneuern bleibt bestehen – gerade in einer Zeit, in der Säkularisierung und Pluralismus neue Herausforderungen an die Kirchen stellen. Vielleicht ist es an der Zeit, dass „Geschichtenerzählen“ wieder stärker in den Vordergrund zu rücken: Narrative Theologien, die die biblischen Geschichten in den Kontext heutiger Lebenswelten stellen, könnten helfen, den Glauben neu anschlussfähig zu machen, ohne die Errungenschaften der Kanonisierung preiszugeben.

 

Die Geschichte von Glaube und Zeitgeist ist eine Geschichte wechselseitiger Beeinflussung. Kanonisierung ist immer auch eine Antwort auf die Herausforderungen der jeweiligen Zeit – mal defensiv, mal progressiv. Die Kunst besteht darin, das Wesentliche zu bewahren und zugleich offen für neue Fragen und Erzählungen zu bleiben. So bleibt der Glaube lebendig und relevant – gestern, heute und morgen.

Geschrieben
vor 4 Stunden schrieb Flo77:

Und im Grunde ist die "Kanonisierung" ja auch nicht wirklich abgeschlossen.

 

Nicht? Sagt wer?

Geschrieben
vor 51 Minuten schrieb Weihrauch:

Der Geist weht, wo er will. Die Tradition der Einigkeit der Kirche ist ein frommer Mythos, Kirchenspaltungen die Realität. 


Ja, das ist richtig, aber es stimmt eben auch, dass, wenn es eines gab, in dem sich alle Christen einig waren, dann darin, dass es nur eine Wahrheit gibt, ihre jeweils eigene nämlich. 

 

vor 53 Minuten schrieb Weihrauch:

Hierarchien gab es früher auch, aber Kanonisierungen in diesem Sinne so viel ich weiß noch nicht. Die Römer kamen vorher ohne Kanonisierung wunderbar aus, andere auch.


Kanonisierung braucht man nur, wenn man sich im Besitz der Wahrheit erwähnt, und ihr zur alleinigen Geltung verhelfen will. Die heidnischen Römer hatten keinen Kanon, weil sie kein Dogma hatten. Gemeinsam bei Ihnen nur die Verehrung ihrer Götter. Was der einzelne darüber hinaus glaubte, war seine Privatangelegenheit. 
 

Das sah die Christen ganz grundsätzlich anders. Sie waren der festen Überzeugung, dass alle nur nach ihrer Façon selig werden durften. Das einzige, was die Kaiser dazu beigetragen haben, war, einer der zerstrittenen Fraktionen zum alleinigen Durchbruch zu verhelfen. Der Wunsch, allein zu herrschen, war diesen Fraktionen auch vorher schon zu eigen, wo fehlten ihnen da noch die Mittel.
 

Geschrieben (bearbeitet)

Ich möchte noch ein wenig beim Zeitgeist und den Veränderungen im Schrifttum verbleiben. Das AT ist keine Autorenliteratur. Ich bin mir grad unsicher, ob man das in einem katholischen Forum schon so sagen kann, ohne dem Lehramt zu widersprechen. Jedenfalls könnte man aus den Schriftfunden am Toten Meer gelernt haben, was völlig unmaßgebliche Theologen wie Johann Christoph Döderlein, Johann Gottfried Eichhorn und Bernhard Duhm bereits herausgefunden hatten, bevor die Qumranschriften gefunden worden sind, was aber durch diese Funde bewiesen wurde.

 

Die Rede ist vom Deutero- und Tritojesaja. Das biblische Jesajabuch ist ein anschauliches Beispiel für die Fortschreibung, in dem unterschiedliche Quellen aus unterschiedlichen Zeiten aneinandergehängt wurden. Auch redaktionelle Änderungen an bestimmten Stellen lassen sich daher gut nachvollziehen. Über die jeweiligen Verfasser kann man nur mehr oder weniger gut begründete Vermutungen anstellen - eigentlich weiß man nichts über sie.

 

Bei den Apostolischen Vätern, den Apologeten und Kirchenvätern liegen die Dinge anders. Da kann man von Autorenliteratur sprechen. Dazwischen scheint das Neue Testament zu schweben, weil es so eine Mixtur aus Autorenliteratur und anonymer Literatur ist. Die ältesten Schriften sind die Briefe des Paulus, daneben gibt es aber auch die Deuteropaulinen, die katholischen Briefe, die Apostelgeschichte, die Offenbarung und natürlich die vier Evangelien von unbekannten Autoren, über die man nichts weiß. Das lukanische Doppelwerk nimmt dabei eine Sonderstellung ein, wie ich finde.

 

Besonders das Lukasevangelium finde ich bemerkenswert, denn es beginnt wie ein Brief (endet aber nicht wie ein Brief):

 

Zitat

Lk 1,1-4
Schon viele haben es unternommen, eine Erzählung über die Ereignisse abzufassen, die sich unter uns erfüllt haben. Dabei hielten sie sich an die Überlieferung derer, die von Anfang an Augenzeugen und Diener des Wortes waren. Nun habe auch ich mich entschlossen, nachdem ich allem von Beginn an sorgfältig nachgegangen bin, es für dich, hochverehrter Theophilus, der Reihe nach aufzuschreiben. So kannst du dich von der Zuverlässigkeit der Lehre überzeugen, in der du unterwiesen wurdest.

 

Und dann macht "er" genau das, was er angekündigt hat, "er" schreibt Erzählungen über die Ereignisse. 

"Er" schreibt nicht die Ereignisse auf, wie ein Historiker, sondern erzählt wunderschöne Geschichten über die Ereignisse, wie ein Dichter. Gleich im Anschluss erzählt "er" strategisch durchkomponiert zwei miteinander kunstvoll verknüpfte Geburtsgeschichten, die des Johannes des Täufers und die des Jesus. Geschichten und Geschichte gehen da noch (oder wieder?) harmonisch Hand in Hand - aber neuerdings (?) gibt es auf der anderen Seite eine, vergleichsweise trockene Lehre - und das ist das Zweite, das mir dabei ins Auge springt, das Dritte ist, dass "er" im Gegensatz zu den anderen Evangelien, einen bestimmten Menschen anspricht und diesen mit seinen Erzählungen von der Zuverlässigkeit der Lehre überzeugen will.

 

Soweit wir, oder ich, das beurteilen können, ist die Lehre das, was in den (echten) Paulusbriefen steht, und um diese Lehre herum wird mit Geschichten und Erzählungen Überzeugungsarbeit geleistet. Kann man das so sagen? Die eigentliche Frage, zu der ich so weit ausholen musste, ist die nach der Rolle des Paulus auf den Zeitgeist, bzw. die Rolle des Zeitgeistes auf das Neue Testament - oder so ähnlich. Ich weiß gar nicht so genau, wie ich meine Frage präzise stellen soll, weil der Zeitgeist schwer zu fassen ist. Jedenfalls stellt das Neue Testament im Ganzen eine Übergangsform oder einen Wendepunkt dar. Ich hoffe ihr, und unser Kommentator, versteht was ich meine.   

     

bearbeitet von Weihrauch
Geschrieben (bearbeitet)
vor 8 Stunden schrieb Marcellinus:

Kanonisierung braucht man nur, wenn man sich im Besitz der Wahrheit erwähnt, und ihr zur alleinigen Geltung verhelfen will. Die heidnischen Römer hatten keinen Kanon, weil sie kein Dogma hatten. Gemeinsam bei Ihnen nur die Verehrung ihrer Götter. Was der einzelne darüber hinaus glaubte, war seine Privatangelegenheit. 

 

Wobei man allerdings nicht vergessen sollte, dass es zumindest im klassischen Hellas Prozesse wegen Gottlosigkeit (Asebie) gab - der bekannteste wäre wohl der gegen Sokrates. Wenn die folgende Darstellung stimmt, war es da nicht so weit her mit der Toleranz:

 

"Zum Verständnis des Straftatbestandes ist zunächst darauf hinzuweisen, dass es im antiken Griechenland keine Glaubens- und – jedenfalls in Religionsangelegenheiten – keine Meinungsfreiheit gab und dass die Trennung zwischen Staat und Religion unbekannt war. Religion war nicht Privatsache, sondern religiöse und hoheitliche Aufgaben lagen gleichermaßen in den Händen des Staates, dessen Institutionen, etwa der Areopag in Athen, oft auch sakrale Funktionen erfüllten und für die Reinheit und die Bewahrung der religiösen Überlieferung sorgten. So war auch festgelegt, welche Götter vom Staat anerkannt waren." 

https://de.wikipedia.org/wiki/Asebie

 

Die Frage wäre, wie weit die Forderungen nach der "Reinheit" der religiösen Überlieferung reichten.

 

bearbeitet von iskander
Geschrieben
vor 10 Stunden schrieb iskander:

Wobei man allerdings nicht vergessen sollte, dass es zumindest im klassischen Hellas Prozesse wegen Gottlosigkeit (Asebie) gab - der bekannteste wäre wohl der gegen Sokrates. Wenn die folgende Darstellung stimmt, war es da nicht so weit her mit der Toleranz …

 

Es geht nicht um Toleranz. Das ist ein ziemlich modernes Konzept, und auch heute weit weniger verbreitet, als manche uns glauben machen wollen.

 

Es geht schlicht darum, daß die heidnische Antike keinen Dogmatismus in religiösen Fragen kannte, weil es keine Dogmen gab. Es ging bei den Göttern auch nicht um Glauben, sondern um Verehrung, um Rituale. 

 

Die Römer erwarteten, daß jeder am Staatskult teilnahm, und bei den Griechen war es ähnlich. Welche Götter man darüber hinaus verehrte, war ohne Belang. Nur deshalb konnte ein so großes Reich mit so vielen unterschiedlichen Kulten überhaupt funktionieren. Es war keine Frage des Glaubens, sondern eine des Respekts. So konnten sich die Christen die allermeiste Zeit ungestört im Römischen Reich ausbreiten. Wo kein Kläger, da kein Richter.

 

Die Christen dagegen hatten von den Juden ein Konzept übernommen, das des einen „wahren“ und all der anderen „falschen“ Götter, gedacht als Teufel und Dämonen. Deshalb verfogten sie, sobald sie die Möglichkeit dazu hatten, aktiv die Anhänger aller anderen Religionen und Kulte, später dann auch die Christen, die nicht ihrer jeweiligen Orthodoxie folgten. Das Ergebnis war nicht ein einheitlicher Glaube (wenn das je das Konzept gewesen sein sollte), sondern eine ununterbrochene Abfolge von Glaubenskriegen, Ketzerverfolgungen und Sezessionen. 

Geschrieben
vor 15 Stunden schrieb Weihrauch:

Ich möchte noch ein wenig beim Zeitgeist [...] verbleiben.

 

Was mich auf ein Versäumnis aufmerksam macht: die fehlende Definition von "Zeitgeist"! Was ist "die Zeit"? Verändert sie sich, und wenn ja, wie und warum? Was ist der "Geist" einer "Zeit", hat die Zeit einen, und wenn ja, wie viele? Und schließlich, ist "Zeitgeist" ein Begriff, der allein für eine beobachtbare Tatsache steht, oder gehen damit Wertvorstellungen einher, ist es vielleicht sogar ein Kampfgegriff - gegen einen bestimmten Geist und eine bestimmte Zeit? Fragen über Fragen! 🙂

Geschrieben

Die du sicher alle beantworten kannst. Dann hau rein, lass uns nicht dumm sterben. 

Geschrieben
vor 3 Minuten schrieb Weihrauch:

Die du sicher alle beantworten kannst. Dann hau rein, lass uns nicht dumm sterben. 

 

Das hab ich mir auch gedacht, und (rein zufällig) hab in meinen Unterlagen ein paar Gedanken dazu gefunden, eine erste Näherung dazu gewissermaßen. 😉

 

 

„Wenn eine Seite nun besonders hervortritt, sich der Menge bemächtigt und in dem Grade triumphiert, daß die entgegengesetzte sich in die Enge zurückziehen und für den Augenblick im stillen verbergen muß, so nennt man jenes Übergewicht den Zeitgeist, der denn auch eine Zeitlang sein Wesen treibt.“

(Goethe)

 

Zeitgeist ist eine interessantes Wort, eigentlich immer nur in abwertender Absicht benutzt. Er taucht offenbar auf im Zusammenhang mit der Französischen Revolution, mit der großflächigen Auflösung religiöser Bindungen, Vorstellungen, Normen und Verhaltensstandards, kurz mit der Auflösung des religiösen Habitus, und dem Entstehen von neuen Normen, Verhalten, Verhaltenserwartungen und Glaubenssätzen.

 

Der sogenannte Zeitgeist ist also eine Bezeichnung für einen Teilaspekt der Säkularisierung, in dessen Verlauf zwar religiöse Normen, Vorstellungen und Verhaltensweisen verschwinden, aber nicht durch eine neue „Freiheit des Denkens und Handelns“ ersetzt werden, sondern durch einen neuen Konformismus.

 

„Zeitgeist“ ist also ein Kampfbegriff, der sowohl von den Vertretern des alten, religiösen Weltbildes verwendet wird, als auch von den „Freigeistern“ der jeweiligen Epochen, die der Mehrheit (zu Recht oder zu Unrecht) vorwerfen, sich sich neuen autoritären Vorstellungen und Normen unterzuordnen.

 

Das sagt aber noch nichts darüber aus, worum es sich bei diesem ominösen „Zeitgeist“ handelt, noch, wenn es ihn denn gibt, wie er jeweils entsteht.

 

Die materielle und soziale Grundlage dieses Begriffs sind offensichtlich längerfristige soziale Prozesse, in deren Verlauf sich die Machtverhältnisse zwischen und die Lebensverhältnisse innerhalb sozialer Gruppen oder Klassen verändern, und so zu geänderten Interessen, Bedürfnissen und Vorstellungen führen.

 

Wenn sich nun die Lebensverhältnisse von nur genügend Menschen in eine ähnliche Richtung bewegen, braucht es keine metaphysischen Annahmen, um zu vermuten, daß sich ihre Haltungen entsprechend entwickeln, und so etwas wie „Zeitgeist“ entsteht, der aus nichts anderem als den Meinungen und Haltungen von ganz vielen Menschen besteht, im Ergebnis aber auf jeden einzelnen von ihnen zurückwirkt wie eine unpersönliche, übermenschliche Kraft. Gepaart mit den entsprechenden sozialen Mechanismen wie Gruppendruck oder öffentlichen und sozialen Medien entsteht so ein gesellschaftliches Klima, dem Einzelne sich nur schwer entziehen können.

Geschrieben
vor 29 Minuten schrieb Marcellinus:

Zeitgeist ist eine interessantes Wort, eigentlich immer nur in abwertender Absicht benutzt. Er taucht offenbar auf im Zusammenhang mit der Französischen Revolution, mit der großflächigen Auflösung religiöser Bindungen, Vorstellungen, Normen und Verhaltensstandards, kurz mit der Auflösung des religiösen Habitus, und dem Entstehen von neuen Normen, Verhalten, Verhaltenserwartungen und Glaubenssätzen.

 

Das ist halt immer so eine Sache, wenn man Wikipedia-Artikel als Beleg für die eigene Meinung anführt, der Artikel das aber gar nicht belegt. Denn der Begriff Zeitgeist wird darin mitnichten "eigentlich immer" nur in abwertender Absicht benutzt, sondern nur dann, wenn sich nur auf den gegenwärtigen Zeitgeist fokussiert wird, und nicht auch der Wandel, also der vorhergehende Zeitgeist mit in den Blick genommen wird.

 

Leider sagt der Artikel wenig darüber, was, warum, wie und durch wen es an den Wendepunkten zum Wandel kommt. Die Übergänge von einem Zeitgeist zum nächsten Zeitgeist, halte ich für das eigentlich Spannende. Ist der Zeitgeist einmal da, hält er eine längere Zeit lang an (Epoche), aber der Wandel zum nächsten Zeitgeist geschieht im Vergleich dazu sehr schnell –.–.–.– quasi schubweise. Welche Kräfte wirken da auf welchen Ebenen auf den Einzelnen in der Masse? Was bewegt zum Umdenken und Umfühlen?

 

Für eine erste Annäherung aber gar nicht mal schlecht. Sicher braucht es keine metaphysischen Annahmen um Zeitgeist zu erklären, aber metaphysische Annahmen sind oft Teil eines Zeitgeistes gewesen, neue metaphysische Annahmen, trugen oft zum Wandel von einem zu einem anderen Zeitgeist bei, und ob ohne solche Annahmen irgendetwas besser wird, ist zumindest fraglich bzw. Zukunftsmusik. 

 

Geschrieben
vor 2 Minuten schrieb Weihrauch:

Das ist halt immer so eine Sache, wenn man Wikipedia-Artikel als Beleg für die eigene Meinung anführt, der Artikel das aber gar nicht belegt.

 

Hab ich auch nicht, nur der Vollständigkeit halber drauf hingewiesen.

 

vor 3 Minuten schrieb Weihrauch:

Für eine erste Annäherung aber gar nicht mal schlecht.

 

Mehr sollte es auch nicht sein.

Geschrieben
vor 6 Stunden schrieb Marcellinus:

Die Römer erwarteten, daß jeder am Staatskult teilnahm, und bei den Griechen war es ähnlich. Welche Götter man darüber hinaus verehrte, war ohne Belang. Nur deshalb konnte ein so großes Reich mit so vielen unterschiedlichen Kulten überhaupt funktionieren. Es war keine Frage des Glaubens, sondern eine des Respekts. So konnten sich die Christen die allermeiste Zeit ungestört im Römischen Reich ausbreiten. Wo kein Kläger, da kein Richter.

 

Vielleicht war Rom als riesiges Reich in dieser Hinsicht auch etwas lockerer als manch kleiner Stadtstaat. 

 

vor 6 Stunden schrieb Marcellinus:

Es geht schlicht darum, daß die heidnische Antike keinen Dogmatismus in religiösen Fragen kannte, weil es keine Dogmen gab. Es ging bei den Göttern auch nicht um Glauben, sondern um Verehrung, um Rituale.

 

Gab es aber nicht doch gewisse implizite Dogmen - sagen wir mal die, dass Jupiter der höchste Gott war? Gab es Grenzen, die man zu beachten hatte?

Geschrieben
vor 33 Minuten schrieb iskander:
vor 6 Stunden schrieb Marcellinus:

Die Römer erwarteten, daß jeder am Staatskult teilnahm, und bei den Griechen war es ähnlich. Welche Götter man darüber hinaus verehrte, war ohne Belang. Nur deshalb konnte ein so großes Reich mit so vielen unterschiedlichen Kulten überhaupt funktionieren. Es war keine Frage des Glaubens, sondern eine des Respekts. So konnten sich die Christen die allermeiste Zeit ungestört im Römischen Reich ausbreiten. Wo kein Kläger, da kein Richter.

 

Vielleicht war Rom als riesiges Reich in dieser Hinsicht auch etwas lockerer als manch kleiner Stadtstaat. 

 

Nein, sie hatten, ebenso wie die Römer, eine andere Vorstellung von Göttern. Die Griechen war ein Volk von Händlern (jedenfalls viele von ihnen) und als solchen war ihnen der Kontakt mit fremden Völkern nicht fremd, und fremde Völker hatten fremde Götter. Wenn man Geschäfte machen wollte, wurden die in der damaligen Zeit beschoren, und jeder schwor natürlich bei seinen Göttern. Das setzte aber voraus, daß man die Götter der anderen respektierte.  

 

vor 33 Minuten schrieb iskander:

 

vor 6 Stunden schrieb Marcellinus:

Es geht schlicht darum, daß die heidnische Antike keinen Dogmatismus in religiösen Fragen kannte, weil es keine Dogmen gab. Es ging bei den Göttern auch nicht um Glauben, sondern um Verehrung, um Rituale.

 

Gab es aber nicht doch gewisse implizite Dogmen - sagen wir mal die, dass Jupiter der höchste Gott war? Gab es Grenzen, die man zu beachten hatte?

 

Nein, genau anders herum. Man versuchte, die fremden Göttern in den eigenen wiederzuerkennen. Dazu gab es eigene Listen von Göttern, die sich gegenseitig entsprachen. Anders wäre ein internationaler Austausch gar nicht möglich gewesen. 

 

Das eindrucksvollste Beispiel für diese gegenseitige Anerkennung von Göttern haben die Prolemäer in Ägypten geliefert. Sie waren Griechen, die im Zug der Feldzüge des Iskander (aka Alexander) von Makedonien in Ägypten an die Herrschaft gekommen waren. Nicht nur, daß ihre Herrscher sich dort als Pharaonen installieren ließen, sie bauten auch Tempel für die ägyptischen Götter. Und sie erfanden auch einen eigenen! Serapis.

 

"Serapis (auch Sarapis) war ein ägyptisch-hellenistischer Gott, der seit Ptolemaios I. als integrativer Reichsgott etabliert wurde. In ihm sind v. a. Züge der ägyptischen Gottheiten Osiris, des Apis-Stiers (der im Kult von Memphis sterbend zu Osiris wird) sowie der griechisch-römischen Hauptgötter Zeus-Jupiter und Hades-Pluto verschmolzen." (Quelle: Wiki)

Geschrieben (bearbeitet)
Am 3.6.2025 um 18:00 schrieb Frey:

Was können wir aus dieser Geschichte lernen? Zunächst, dass der Prozess der Kanonisierung nie wirklich abgeschlossen ist. Auch heute noch wird darüber gestritten, wie verbindlich bestimmte Schriften oder Traditionen sind.

 

Am 3.6.2025 um 18:24 schrieb rorro:
Am 3.6.2025 um 14:16 schrieb Flo77:

Und im Grunde ist die "Kanonisierung" ja auch nicht wirklich abgeschlossen.

 

Nicht? Sagt wer?

 

@rorro Vermutlich sagt das niemand - aber in der Praxis sieht es dann doch anders aus, auch in der katholischen Kirche. Merkt man an der Bibelübersetzung (Einheitsübersetzung 1980 und 2016) an vielen Stellen, z.B. immer dann, wenn auf andere "Quellen" verwiesen wird, auf griechische (LXX auch in den hebräischen Textteilen, wird der gr. Text oft dem hebr. Original vorgezogen, "Text korr. nach G"), lateinische, samaritanische, syrische Übersetzung usw. Man ist da durchaus wählerisch, was am besten zu der Kirche passt. Es geht bei der Kanonisierung nicht nur um die Auswahl der Bücher sondern auch die der Quellen auf die man sich als die Offenbarung Gottes beruft - von der Interpretation mal abgesehen ("kanonische Interpretation" sagt allerdings schon jemand, und meint damit selbstverständlich Interpretation der Kirche).

 

Am 3.6.2025 um 18:00 schrieb Frey:

Die Spannung zwischen Bewahren und Erneuern bleibt bestehen – gerade in einer Zeit, in der Säkularisierung und Pluralismus neue Herausforderungen an die Kirchen stellen. Vielleicht ist es an der Zeit, dass „Geschichtenerzählen“ wieder stärker in den Vordergrund zu rücken: Narrative Theologien, die die biblischen Geschichten in den Kontext heutiger Lebenswelten stellen, könnten helfen, den Glauben neu anschlussfähig zu machen, ohne die Errungenschaften der Kanonisierung preiszugeben.

 

Also lernen wir nichts daraus, und es bleibt alles beim Alten? "Die biblischen Geschichten in den Kontext heutiger Lebenswelten zu stellen", um so "Glauben neu anschlussfähig zu machen" ist doch das, was in Predigten seit ewigen Zeiten gemacht wird, und ein völlig auf den Kopf gestelltes Verständnis vom "Sitz im Leben" (Gunkel) widerspiegelt. Denn eigentlich meint der von Gunkel geprägte Begriff - im Sitz des Zeitgeistes der Verfasser und nicht im Sitz des Zeitgeistes des modernen Kirchgängers, der eben von Säkularisierung und Pluralismus bestimmt wird und nicht nur von der altorientalischen Weltanschauung der jüdischen Kirchengründer, Paulus und den Aposteln. 

bearbeitet von Weihrauch
Geschrieben
vor 21 Stunden schrieb Weihrauch:

Also lernen wir nichts daraus, und es bleibt alles beim Alten? "Die biblischen Geschichten in den Kontext heutiger Lebenswelten zu stellen", um so "Glauben neu anschlussfähig zu machen" ist doch das, was in Predigten seit ewigen Zeiten gemacht wird, und ein völlig auf den Kopf gestelltes Verständnis vom "Sitz im Leben" (Gunkel) widerspiegelt. Denn eigentlich meint der von Gunkel geprägte Begriff - im Sitz des Zeitgeistes der Verfasser und nicht im Sitz des Zeitgeistes des modernen Kirchgängers, der eben von Säkularisierung und Pluralismus bestimmt wird und nicht nur von der altorientalischen Weltanschauung der jüdischen Kirchengründer, Paulus und den Aposteln. 


Die Spannung zwischen Bewahrung und Erneuerung ist ein konstitutives Element religiöser Traditionen – und gerade im Christentum immer wieder Gegenstand intensiver Auseinandersetzungen. Die Kirche steht heute vor der Herausforderung, auf gesellschaftliche Entwicklungen wie Säkularisierung und Pluralisierung zu reagieren, ohne ihre Identität zu verlieren. Das „Geschichtenerzählen“ – verstanden als narrative Theologie – wird dabei häufig als Brücke zwischen Tradition und Gegenwart ins Spiel gebracht.
Narrative Theologie – wirklich etwas Neues?
Die Kontextualisierung biblischer Geschichten ist keineswegs eine Innovation des 21. Jahrhunderts. Schon die frühchristlichen Gemeinden, die Kirchenväter, die Reformatoren und nicht zuletzt die Prediger aller Epochen haben versucht, die biblische Botschaft in die jeweilige Lebenswelt zu übersetzen. Die Predigt ist per se ein Akt der Kontextualisierung.
Was heute jedoch neu ist – und hier liegt vielleicht der Unterschied – ist die radikale Pluralität der Lebenswelten und die Distanz vieler Menschen zu religiösen Deutungsmustern. Die Herausforderung besteht nicht nur darin, biblische Geschichten „anschlussfähig“ zu machen, sondern auch darin, dass der „Sitz im Leben“ der Hörenden oftmals keinerlei religiöse Vorprägung mehr aufweist. Hier geht es also um mehr als nur um Aktualisierung: Es geht um die Frage, wie Glauben überhaupt noch kommunikabel bleibt.
Gunkels „Sitz im Leben“ – eine notwendige Präzisierung: Der Verweis auf Hermann Gunkel und den „Sitz im Leben“ ist sehr treffend. Gunkel hat mit diesem Begriff betont, dass die biblischen Texte aus konkreten sozialen, kulturellen und religiösen Situationen heraus entstanden sind – und dass diese Ursprungsbedingungen für das Verständnis der Texte zentral sind. Eine narrative Theologie, die diesen historischen Kontext ausblendet und die Geschichten nur auf heutige Lebenswelten „umdeutet“, läuft tatsächlich Gefahr, die Tiefe und den ursprünglichen Sinn der Texte zu verfehlen.
Was lernen wir daraus?
Die Antwort auf Deine kritische Frage lautet daher: Nein, es bleibt nicht alles beim Alten – aber auch nicht alles wird neu. Die Kunst besteht darin, die biblischen Texte in ihrer historischen Tiefe ernst zu nehmen (also Gunkels „Sitz im Leben“ zu beachten), sie zugleich aber so zu erzählen, dass sie im Hier und Heute Resonanz erzeugen können. Das ist ein anspruchsvoller Balanceakt, der weder in bloßer Aktualisierung noch in musealer Bewahrung aufgehen darf.
Vielleicht ist genau das die Aufgabe heutiger Theologie: Nicht nur Geschichten „neu zu erzählen“, sondern auch Räume zu schaffen, in denen die Vielschichtigkeit und Fremdheit der biblischen Überlieferung als Herausforderung und Bereicherung erfahren werden kann: jenseits bloßer Anpassung an den Zeitgeist, aber auch jenseits bloßer Traditionspflege.

Die Spannung bleibt bestehen – und sie ist produktiv, solange sie zum Nachdenken, zum Dialog und zur kreativen Auseinandersetzung herausfordert. Die narrative Theologie kann hierbei ein hilfreiches Instrument sein, wenn sie sich ihrer eigenen Grenzen und Möglichkeiten bewusst bleibt.

Geschrieben
vor 35 Minuten schrieb Frey:

Die Spannung zwischen Bewahrung und Erneuerung ist ein konstitutives Element religiöser Traditionen – und gerade im Christentum immer wieder Gegenstand intensiver Auseinandersetzungen. Die Kirche steht heute vor der Herausforderung, auf gesellschaftliche Entwicklungen wie Säkularisierung und Pluralisierung zu reagieren, ohne ihre Identität zu verlieren. Das „Geschichtenerzählen“ – verstanden als narrative Theologie – wird dabei häufig als Brücke zwischen Tradition und Gegenwart ins Spiel gebracht.

 

Mein Bedauern über das Aufhören des Geschichtenerzählens bezog sich auf die Alte Kirche zu Beginn unserer Zeitrechnung, insofern keine neuen Geschichten mehr erfunden wurden. Das hörte auf, zum "Sitz im Leben" (nach Gunkel) zu gehören. Die Kanonisierung beendete ein für allemal die Tradition der Fortschreibung an der Bibel.  

 

Am 3.6.2025 um 13:31 schrieb Weihrauch:

Was mir auffällt ist, dass um die Zeit zu Beginn unserer Zeitrechnung das Geschichtenerzählen und die Geschichtsschreibung, wie soll ich sagen, nicht mehr so gut miteinander harmonierten, nicht mehr Hand in Hand gingen, sich irgendwie auseinanderlebten. Irgendwann wurde nur noch kommentiert, was kanonisiert worden war. Am meisten bedauere ich dabei das Aufhören des Geschichtenerzählens, denn die biblischen Geschichten, finde ich das Erbaulichste für meinen Glauben, während Kirchengeschichte eher abturnt.

 

Ich erinnere mich daran, wie die "Omi" meiner katholischen Schule (Gründerin / Sponsorin?) uns Erst- und Zweitklässlern ihre Geschichten vom Jesuskind erzählte, wie wir Knirpse gebannt an ihren Lippen hingen, nach noch einer, und noch einer Geschichte bettelten, und sie nicht gehen lassen wollten. Diese Geschichten vom Jesuskind waren die eigentliche Initialzündung für meinen christlichen Glauben, und machten mich zu einem religiös "musikalischen" Menschen.

 

vor 51 Minuten schrieb Frey:

Narrative Theologie – wirklich etwas Neues?

 

Mit diesem Begriff konnte ich nichts anfangen, darum musste ich kurz recherchieren und fand als erstes das:

 

Zitat

Fahlbusch, Erwin Hg. TRT Taschenlexikon Religion und Theologie, Artikel Narrative Theologie, S. 2440 Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1983.

 

Narrative Theologie (lat. narrare = erzählen) ist kein ausgearbeitetes Programm, sondern Sammelbegriff für z.T. sehr unterschiedliche Ansätze. Sie reichen von methodisch kontrollierter Nacherzählung biblischer Stoffe bis zum Verständnis des Erzählens als allgemeine Vermittlungskategorie der Theologie. Der Begriff geht auf den Linguisten H. Weinrich und den katholischen Theologen J.B. Metz zurück. Beide verstehen das frühe Christentum als eine Erzählgemeinschaft ...


In diesem Sinne verstanden, verwies ich oben auf das Verhältnis der Evangelien, besonders das "des Lukas", zu den Paulinischen Briefen. 

 

Das hier ...

 

vor 1 Stunde schrieb Frey:

Was heute jedoch neu ist – und hier liegt vielleicht der Unterschied – ist die radikale Pluralität der Lebenswelten und die Distanz vieler Menschen zu religiösen Deutungsmustern. Die Herausforderung besteht nicht nur darin, biblische Geschichten „anschlussfähig“ zu machen, sondern auch darin, dass der „Sitz im Leben“ der Hörenden oftmals keinerlei religiöse Vorprägung mehr aufweist. Hier geht es also um mehr als nur um Aktualisierung: Es geht um die Frage, wie Glauben überhaupt noch kommunikabel bleibt.

 

... wäre eher die Narrative Exegese, also das, was ich unter anderem bei meiner Interpretation der biblischen Urgeschichte versucht habe. Ich erwähne das nur deswegen hier, weil ich bei meiner Recherche zur Narrativen Theologie zufällig auf diesen Begriff gestoßen bin, und ich mich freue endlich einen passenden Begriff für einen Teil meines hermeneutischen Ansatzes gefunden zu haben, der eben ein Mix ist aus historisch-kritischer Methode und wie ich jetzt weiß der Narrativen Exegese die mir bis dato unbekannt war. Es gibt keinen Neuschnee. Das sind solch erfreuliche Nebeneffekte, die in Diskussionen manchmal auftreten, selbst oder gerade dann, wenn man sich missversteht. 

 

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Geschrieben
Am 8.6.2025 um 13:36 schrieb Weihrauch:

 

... wäre eher die Narrative Exegese, also das, was ich unter anderem bei meiner Interpretation der biblischen Urgeschichte versucht habe. Ich erwähne das nur deswegen hier, weil ich bei meiner Recherche zur Narrativen Theologie zufällig auf diesen Begriff gestoßen bin, und ich mich freue endlich einen passenden Begriff für einen Teil meines hermeneutischen Ansatzes gefunden zu haben, der eben ein Mix ist aus historisch-kritischer Methode und wie ich jetzt weiß der Narrativen Exegese die mir bis dato unbekannt war. Es gibt keinen Neuschnee. Das sind solch erfreuliche Nebeneffekte, die in Diskussionen manchmal auftreten, selbst oder gerade dann, wenn man sich missversteht. 

 


 

Zwischen narrativer Exegese und narrativer Theologie gibt es Unterschiede (ich glaube aber dass es Dir sowieso klar ist).

 

Die "Narrative Exegese" ist eine Methode der Bibelauslegung, die literaturwissenschaftliche Erzähltheorien auf biblische Texte anwendet. Sie analysiert, wie biblische Geschichten erzählt werden (z.B. Erzählerperspektive, Spannungsbogen, Figuren), um die Wirkung und Bedeutung der vorliegenden Textgestalt zu verstehen. Im Mittelpunkt steht die Analyse der Erzählstruktur, nicht die Entstehungsgeschichte oder der historische Kontext. einen methodischen Ansatz, bei dem die befragte Person frei erzählt, wie sie Dinge wahrnimmt oder erlebt hat. Diese Erzählungen werden anschließend analysiert, was methodisch tatsächlich mit der oben genannten Erzählanalyse vergleichbar ist.

 

Die "Narrative Theologie" hingegen nutzt das Erzählen selbst als Zugang zur Theologie. Sie versteht Glaubensaussagen, Gotteserkenntnis und Offenbarung als in Geschichten eingebettet und legt Wert darauf, dass Glaube und Theologie in Erzählungen lebendig werden. Narrative Theologie reflektiert also, wie Gottes Handeln und Glaubenserfahrung als fortlaufende Geschichte verstanden und weitererzählt werden. Umgangssprachlich spricht man bei narrativer Exegese oft von „Erzählanalyse“ oder „Erzählforschung“ der Bibel, bei narrativer Theologie von „Glauben erzählen“, „Glaubensgeschichte“ oder „Gottesgeschichte".


Weitere Unterscheidungen:

Die Predigt ist die Verkündigung und Auslegung biblischer Texte im Gottesdienst, meist mit aktuellem Bezug für die Gemeinde. Sie kann sich der narrativen Exegese bedienen, muss sie aber nicht.
Die Katechese ist eine Glaubensunterweisung, meist systematisch und lehrhaft, zur Einführung in zentrale Glaubensinhalte. Hier kann meiner Meinung nach die narrative Theologie gute Dienste leisten, ebenso wie das individuelle Glaubenszeugnis als persönliche Erzählung von Glaubenserfahrung, oft (jedoch) lebensnah und subjektiv und somit oft nur bedingt verallgemeinerbar.

 

 

Geschrieben (bearbeitet)
vor 5 Stunden schrieb Frey:

Zwischen narrativer Exegese und narrativer Theologie gibt es Unterschiede (ich glaube aber dass es Dir sowieso klar ist).

 

Dass es dabei um zwei unterschiedliche Dinge geht ist mir klar. Anhand des Wikipediaartikels wusste ich sofort was Narrative Exegese ist, weil ich diese seit langem praktiziere - ohne dafür diesen Namen gehabt zu haben. Es erschien mir einfach logisch, so an Texte heranzugehen, und der enorme Ertrag dieser Herangehensweise bestätigt immer wieder, wie sinnvoll sie ist. 

 

Was die Narrative Theologie sein soll, ist mir hingegen nicht klar, nicht mal ob das überhaupt "etwas" ist. Im Artikel des TRT steht, dass sie "kein ausgearbeitetes Programm, sondern Sammelbegriff für z.T. sehr unterschiedliche Ansätze" ist. Je mehr ich dazu recherchiere, desto verschwommener wird es, weil der Begriff auf so ziemlich jede Erzählung angewendet wird, von der biblischen Erzählung bis zu der Glaubenserfahrung: "Gott führte mich genau zu meinem verlorenen Autoschlüssel". Das zweite Problem ist, das alles, was ich zur Narrativen Theologie bisher finden konnte, einzig auf das Christentum zugeschnitten ist.

 

Erzählung gibt es nicht nur im Christentum, und Theologie ist auch kein Alleinstellungsmerkmal des Christentums - und da klingeln bei mir die Alarmglocken, denn sowohl der Begriff Narrativ (Erzählung) als auch der Begriff Theologie (Rede, Lehre von Göttern) ist eigentlich nicht exklusiv, in dieser Kombination wird daraus ein rein christlicher Terminus technicus. Kann man machen, aber wozu soll das gut sein?

 

Wenn etwas so auf die eigene Erzählung und die eigene Theologie zugeschnitten ist, ist der Bestätigungsfehler (affirmation bias) fest in die Programmatik eingebaut, weil am Anfang schon feststeht, was am Ende rauskommen wird. Der geistige Horizont wird dabei so eng geführt, als gäbe es die allgemein menschlichen Phänomene Erzählen und Theologie einzig im Christentum.

 

Was du über sie sagst ...

 

vor 5 Stunden schrieb Frey:

Die "Narrative Theologie" hingegen nutzt das Erzählen selbst als Zugang zur Theologie. Sie versteht Glaubensaussagen, Gotteserkenntnis und Offenbarung als in Geschichten eingebettet und legt Wert darauf, dass Glaube und Theologie in Erzählungen lebendig werden. Narrative Theologie reflektiert also, wie Gottes Handeln und Glaubenserfahrung als fortlaufende Geschichte verstanden und weitererzählt werden.

 

... klingt dann auch genau so. So verstanden gibt es Narrative Theologie nirgendwo sonst, weil andere Heilige Schriften keine Offenbarung Gottes sind, es daher auch keine andere Gotteserkenntnis geben kann, weil andere Götter zu keiner Handlung fähig sind, weil sie nie existiert haben usw.

 

Ist es eine dumme Frage, was eigentlich zuerst da war: das Narrativ oder die Theologie? Narrative Theologie tut so, als wäre die Theologie zuerst da, das Eigentliche, und das Narrativ nur eine unter- oder nachgeordnete Form der Wiedergabe. Was spricht umgekehrt für Theologisches Narrativ, was dagegen, oder ging das "Im Anfang" Hand in Hand?

 

Ist es wirklich so, wie "Lukas" sagt, dass seine Erzählung den Theophilus von der Zuverlässigkeit der Lehre überzeugen soll, oder so, dass die Lehre den Theophilus von der Zuverlässigkeit seiner Erzählung überzeugen soll? Haben "wir" vielleicht deshalb, die Erzählungen der Evangelien vor die Lehre des Paulus in seinen Briefen gestellt, weil die Erzählungen uns längst überzeugt haben, bevor wir zur Lehre kommen, weil Erzählungen immer schon überzeugender waren als alle Lehren, die womöglich ohne Erzählungen gar nicht auskommen - und darum die Evangelien geschrieben werden mussten?

 

Ernsthafte Frage: Wenn man sich entscheiden müsste zwischen den Erzählungen und den Lehrtexten des Neuen Testaments um die Kirche zu retten, was würde man behalten, was verwerfen? Ich würde mich für die Erzählungen entscheiden, weil ich in Glaubensdingen meinem Verstand weniger traue als meinem Bauch, denn dort, in den Erzählungen, spielt die Musik, die nur mit dem Herzen wahrgenommen werden kann. 

 

Das ist also der Hauptunterschied: Narrative Exegese ist universell auf alle Erzählungen, die Narrative Theologie ausschließlich auf christlich verstandene Erzählungen anwendbar. Da ist selbst das Judentum raus, aus der Narrativen Theologie. Damit ist sie für mich als Christ wertlos, wenn nicht sogar schädlich, weil so der Eindruck erweckt wird, als hätten andere Menschen weder Erzählungen noch eine Theologie. Wenn meine Glaubenserfahrung darin besteht, dass ich die Glaubenserfahrung Andersgläubiger nicht als fortlaufende Geschichte verstehe, habe ich ein verzerrtes Verständnis von der Geschichte. Ich würde mir vorkommen wie ein Thunfisch der im eigenen Saft eingedost worden ist.

bearbeitet von Weihrauch
Geschrieben
vor 4 Stunden schrieb Weihrauch:

 

... Anhand des Wikipediaartikels wusste ich sofort was Narrative Exegese ist, weil ich diese seit langem praktiziere - ohne dafür diesen Namen gehabt zu haben. Es erschien mir einfach logisch, so an Texte heranzugehen, und der enorme Ertrag dieser Herangehensweise bestätigt immer wieder, wie sinnvoll sie ist. 

 

Was die Narrative Theologie sein soll, ist mir hingegen nicht klar, ...

 

 

... klingt dann auch genau so. So verstanden gibt es Narrative Theologie nirgendwo sonst, weil andere Heilige Schriften keine Offenbarung Gottes sind, es daher auch keine andere Gotteserkenntnis geben kann, weil andere Götter zu keiner Handlung fähig sind, weil sie nie existiert haben usw.

 

Ist es eine dumme Frage, was eigentlich zuerst da war: das Narrativ oder die Theologie? Narrative Theologie tut so, als wäre die Theologie zuerst da, das Eigentliche, und das Narrativ nur eine unter- oder nachgeordnete Form der Wiedergabe. Was spricht umgekehrt für Theologisches Narrativ, was dagegen, oder ging das "Im Anfang" Hand in Hand?

....

Ernsthafte Frage: Wenn man sich entscheiden müsste zwischen den Erzählungen und den Lehrtexten des Neuen Testaments um die Kirche zu retten, was würde man behalten, was verwerfen? Ich würde mich für die Erzählungen entscheiden, weil ich in Glaubensdingen meinem Verstand weniger traue als meinem Bauch, denn dort, in den Erzählungen, spielt die Musik, die nur mit dem Herzen wahrgenommen werden kann. 

 

Das ist also der Hauptunterschied: Narrative Exegese ist universell auf alle Erzählungen, die Narrative Theologie ausschließlich auf christlich verstandene Erzählungen anwendbar. Da ist selbst das Judentum raus, aus der Narrativen Theologie. Damit ist sie für mich als Christ wertlos, wenn nicht sogar schädlich, weil so der Eindruck erweckt wird, als hätten andere Menschen weder Erzählungen noch eine Theologie. Wenn meine Glaubenserfahrung darin besteht, dass ich die Glaubenserfahrung Andersgläubiger nicht als fortlaufende Geschichte verstehe, habe ich ein verzerrtes Verständnis von der Geschichte. Ich würde mir vorkommen wie ein Thunfisch der im eigenen Saft eingedost worden ist.


Eigentlich bringst du es treffend auf den Punkt: „Anhand des Wikipedia-Artikels wusste ich sofort, was Narrative Exegese ist, weil ich diese seit langem praktiziere – ohne dafür diesen Namen gehabt zu haben.“
Bei der Narrativen Theologie handelt es sich weniger um eine neu erfundene Methode, sondern vielmehr um die Beschreibung eines Phänomens, das in der religiösen Praxis schon lange existiert. Man gibt dem Kind sozusagen einen Namen und konzeptualisiert das Vorgehen anschließend, setzt es also bewusst ein – oder eben nicht.
Die Erzählung über den Glauben oder über Gott findet tatsächlich tagtäglich statt – und das keineswegs nur im Christentum. Die Bezeichnung „Narrative Theologie“ ist zwar im christlichen Kontext entstanden, doch existiert die Praxis der Glaubenserzählung auch in anderen Religionen. Dort wird sie möglicherweise anders bezeichnet und vielleicht sogar mit einem passenderen Begriff versehen. Im weiteren Sinne lassen sich auch bestimmte Beiträge in diesem Diskussionsforum als Ausdruck narrativer Theologie verstehen.
Dabei handelt es sich nicht in erster Linie um Wissenschaft oder Erkenntnis im engeren Sinn, sondern um gelebte religiöse Praxis. Eine Bewertung als „wertlos“ oder „schädlich“ ist zwar möglich, würde ich aber zurückweisen. Es ändert ohnehin nichts an der Realität. Ich sehe darin kein normatives Problem, sondern vielmehr eine nüchterne Beschreibung dessen, was tagtäglich geschieht. Das konkrete Narrativ kann man selbstverständlich bewerten und überlegen, ob es den Kern der Glaubensinhalte trifft oder nicht. Auch das findet sich hier wieder

Geschrieben (bearbeitet)
vor 9 Stunden schrieb Frey:

Eigentlich bringst du es treffend auf den Punkt: „Anhand des Wikipedia-Artikels wusste ich sofort, was Narrative Exegese ist, weil ich diese seit langem praktiziere – ohne dafür diesen Namen gehabt zu haben.“
Bei der Narrativen Theologie handelt es sich weniger um eine neu erfundene Methode, sondern vielmehr um die Beschreibung eines Phänomens, das in der religiösen Praxis schon lange existiert. Man gibt dem Kind sozusagen einen Namen und konzeptualisiert das Vorgehen anschließend, setzt es also bewusst ein – oder eben nicht.

 

Der Terminus technicus stammt aus den 1970er Jahren und gilt heute als eine Modeerscheinung des damaligen Zeitgeistes - Narrative Theologie spielt heute keine Rolle mehr. Heute spricht man von anderen Dingen, narrativer Religionspädagogik oder von der Dramatischen Theologie oder ähnlichem. Die Idee an sich war klasse, aber diese enggeführte Umsetzung scheiterte eben daran, dass sie sich ausschließlich auf christlich verstandene Erzählungen beschränkt hat, die Idee für sich allein vereinnahmt hat, statt Narrative Theologie religionsgeschichtlich allen zugänglich zu gestalten. 

 

Schädlich war es deshalb vor allem für die Kirche selbst, denn die Chance mal in etwas ein Vorreiter zu sein, und die anderen mitzunehmen, hat sie verpasst, und ist stattdessen als der einsame Held mit der Wahrheit in den Satteltaschen allein in den Sonnenuntergang geritten. Ende - Blende - Abspann. Das ist zwanghaft, die eigene Glaubwürdigkeit zu verspielen, wo es nur geht.

 

Der Rest der Welt ist immer schon abgeschrieben, zählt nur als Missionsobjekt, immer tritt man als der glorreiche Retter in Erscheinung und alle anderen sind die Hilfsbedürftigen, die nichts zu sagen haben, und zum Zuhören verdonnert sind. Ich denke es liegt an dieser Grundeinstellung oder Haltung, warum die Narrative Theologie eine Modeerscheinung geblieben ist. Die anderen werden das nicht mal als arrogant empfunden haben, sondern als irrelevant links liegen gelassen haben, weil sie nichts damit anfangen konnten.

 

Wäre man da objektiver herangegangen, wäre es ans Eingemachte gegangen, dann wären andere Heilige Schriften, wie beispielsweise das Enuma Elisch nicht weniger Offenbarung, dann gäbe es Gotteserkenntnis auch in Bezug zu Marduk, oder dem Großen Weißen Büffel, und man würde das Handeln der Götter überall in der Geschichte sehen. Es ist die pure Angst, die dahinter steckt, und sie ist kein guter Ratgeber. 

 

vor 9 Stunden schrieb Frey:

Die Erzählung über den Glauben oder über Gott findet tatsächlich tagtäglich statt – und das keineswegs nur im Christentum. Die Bezeichnung „Narrative Theologie“ ist zwar im christlichen Kontext entstanden, doch existiert die Praxis der Glaubenserzählung auch in anderen Religionen.

   

Ja natürlich, die anderen auf Augenhöhe in die Narrative Theologie mitzunehmen, ist die verpasste Chance von der ich Rede. Die Kirche ist nie auf Augenhöhe, ist immer top-down, kanzelt ständig alles andere ab. Sie lehrt, statt mit und von anderen zu lernen. Gerade weil Erzählen und Theologie so weit verbreitete Phänomene sind, könnten die anderen vieles andere zu dem Thema beitragen, was die Kirche nicht im Blickfeld hat, weil sie sich immer nur um sich selbst dreht.

 

Das ist halt wenig attraktiv, und wirkt eher abstoßend in einer pluralen Welt - und das hat mit einem neuen Zeitgeist nichts zu tun, denn die religiöse Pluralität ist älter als das AT, denn wegen der Pluralität wurde es schließlich geschrieben, und das Christentum ist wegen der Pluralität zur Staatsreligion geworden. Business as usual. Der ständige Verweis auf den Zeitgeist und die Pluralität der Gesellschaft, bedeutet nichts anderes als, wir machen alles richtig - die anderen sind schuld. Kampfbegriffe lösen keine Probleme sondern verschleiern sie - vor allem vor einem selbst. 

 

Die Welt hat nie aufgehört gute Geschichten zu erzählen die relevant sind. Die Kirche hat leider damit aufgehört, das Erzählen anderen überlassen, der Kunst, der Literatur, dem Theater, der Filmindustrie - aber diese anderen Akteure sind klug genug, niemandem vorzuschreiben, wie er ihre Erzählungen zu verstehen hat. Sie lassen Raum für echte Dialoge, bei denen niemand die Deutungshoheit für sich beansprucht, und zu Beginn schon weiß, was am Ende des Dialoges herauskommt. Auf solche Dialoge hat niemand Lust. Die Narrative Theologie ist dafür nur ein weiteres trauriges Beispiel. 

 

vor 9 Stunden schrieb Frey:

Im weiteren Sinne lassen sich auch bestimmte Beiträge in diesem Diskussionsforum als Ausdruck narrativer Theologie verstehen.

 

Ja leider. Diese bestimmten Beiträge sind die mit eingebauter Deutungshoheit, die keine andere Perspektive aushalten können, und den Dialog an diesem Punkt beenden, mit Verweis auf die Autorität und Tradition. Da hat dann alles andere keinen Wert mehr und auch die Narrative Exegese jeglichen Wert verloren.

 

Was ich hier schreibe, wirst du vermutlich als Angriff empfinden, und nicht als konstruktive Kritik, wie ich es meine. Eine Frage war: Was lernen wir daraus? Ich habe in diesem Gespräch viel gelernt, aber das löst das Problem der Kirche hierzulande nicht, wenn ich etwas über die Kirche lerne. 

 

 

 

bearbeitet von Weihrauch
Geschrieben

Du hast völlig recht, dass der Begriff „Narrative Theologie“ vor allem in den 1970er Jahren geprägt wurde und in der theologischen Fachdebatte heute weniger präsent ist. Dennoch halte ich es für verkürzt, sie lediglich als „Modeerscheinung“ abzutun. Vielmehr war sie Ausdruck eines Paradigmenwechsels in der Theologie, der die Bedeutung von Geschichten, Symbolen und Erzählstrukturen für die Glaubensvermittlung und -reflexion neu in den Mittelpunkt rückte. Auch wenn sich die Terminologie gewandelt hat und heute etwa von „narrativer Religionspädagogik“ oder „dramatischer Theologie“ gesprochen wird, ist das Grundanliegen – die zentrale Rolle von Narrativen im religiösen Leben – weiterhin hochaktuell.

Du sprichst einen wunden Punkt an, wenn du der Kirche vorwirfst, sie habe es versäumt, narrative Zugänge wirklich plural und dialogisch zu öffnen. Tatsächlich war (und ist) die Versuchung groß, Narrative Theologie im Sinne einer exklusiv christlichen Deutungshoheit zu instrumentalisieren. Hier stimme ich dir zu: Eine theologisch fruchtbare Auseinandersetzung mit Narrativen anderer religiöser Traditionen wäre bereichernd und könnte helfen, die eigene Perspektive zu weiten und in einen echten Dialog einzutreten.
Allerdings möchte ich zu bedenken geben, dass die katholische Theologie – gerade im Zuge des Zweiten Vatikanischen Konzils – durchaus Schritte in Richtung einer dialogischen Offenheit unternommen hat. Dokumente wie „Nostra Aetate“ haben die Wertschätzung anderer Religionen und ihrer Erzähltraditionen ausdrücklich betont. Dass dies in der Praxis nicht immer konsequent umgesetzt wurde, ist eine berechtigte Kritik, die uns weiterhin herausfordert.


Du betonst auch zu Recht, dass die Erzählung von Glauben und Gott kein exklusiv christliches Phänomen ist. Das Erzählen als Grundvollzug religiöser Kommunikation ist kultur- und religionsübergreifend. Hier liegt meines Erachtens die eigentliche Stärke der narrativen Zugänge: Sie eröffnen Räume des Verstehens, der Identitätsbildung und der Begegnung – auch über konfessionelle und religiöse Grenzen hinweg.
Dass die Kirche in der Vergangenheit (und bis heute) zu oft auf Belehrung statt auf Dialog gesetzt hat, ist eine selbstkritische Einsicht, die Theologen ernst nehmen müssen. Narrative Theologie kann und sollte gerade dazu beitragen, den Dialog zu fördern, statt ihn zu verhindern.

Deine Beobachtung, dass andere gesellschaftliche Akteure – Kunst, Literatur, Film – heute oft die Rolle des Geschichtenerzählens übernommen haben, ist richtig. Die Kirche steht vor der Herausforderung, ihre eigenen Narrative so zu erzählen, dass sie anschlussfähig bleiben, ohne ihre Identität zu verlieren oder sich in Beliebigkeit aufzulösen. Das bedeutet auch, Deutungshoheit nicht von vornherein zu beanspruchen, sondern im Dialog offen zu bleiben für neue Perspektiven und Erfahrungen.

Ich verstehe deine Kritik nicht als Angriff, sondern als wertvollen Beitrag zur Selbstreflexion der Theologie und der Kirche. Die Frage, was man daraus lernt, bleibt zentral. Narrative Theologie ist kein Allheilmittel, aber sie kann ein wichtiger Impuls sein, um Glauben neu ins Gespräch zu bringen – mit anderen Religionen, mit der Gesellschaft, und nicht zuletzt mit uns selbst.

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