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Ecclesiogenes psychovegetatives Syndrom


Stefan

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Auf der Seite kirchenkritik.de befindet sich das Dekret des Erzbischof von München und Freising zur Exkommunikation Willibald Glas (pdf-Datei).

 

Eine Passage daraus hat mich etwas verwirrt:

  • "Da Sie nach dem ärztlichen Attest vom 21.9.1989 an einem ausgeprägten ecclesiogenen psychovegetativen Syndrom leiden, könnte es zweifelhaft sein, ob Sie diese Strafe inkurriert haben."

"Ecclesiogenes psychovegetatives Syndrom" - das klingt ja fast nach einer scherzhaft-psychologisierenden Umschreibung für den Glauben an sich. Gibt es das wirklich? Und wenn ja, was ist das? Google gab da leider nicht viel her.

 

Gruß

Stefan

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Das ist mir auch neu. Vermutlich ist es eine Eigenschöpfung des Arztes. Religion ist jedenfalls eine Neurose und kein psychovegetatives Syndrom.

 

Der tut so, als sei das eine echte Diagnose. Der Arzt hätte es festgestellt. Im ICD10 jedenfalls steht nix darüber (logisch, wie auch ...)

 

sieh selbst: http://www.dimdi.de/de/klassi/diagnosen/ic...amtl/fr-icd.htm

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Hallo Stefan

 

"Ecclesiogenes psychovegetatives Syndrom"

 

Naja, nette Wortschöpfung, wird es so wahrscheinlich wirklich auch nicht geben.

 

Aber viele medizinische Wörter sind einfach nur lateinische, griechische Beschreibungen.

 

Ecclesiogen: ecclesia = Kirche, -gen = von, her

 

Psychovegetativ beschreibt eine körperliche Reaktion, die seelisch verursacht ist.

 

Syndrom: Zusammentreffen mehrer Symptome

 

Also im Klartext: Nichts genaues, weiß man nicht!

Vielleicht soll es nur aussagen, daß derjenige etwas neben der Spur ist.

 

schmunzelnde Grüße mtoto

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@mtoto

 

Eine Übersetzung eines Namens bringt nix. Ansonsten müßte Kordian tatsächlich "unser Herzchen" sein, ein "Atheist" jemand, der nicht nicht Götter glaubt oder eine "Spitzmaus" tatsächlich eine Maus mit spitz zulaufender Körperform.

 

Es gibt kein "ecclesiogenes psychovegetatives Syndrom", und zwar nicht deshalb nicht, weil psychovegetative Vorgänge keine ecclesienhuberei generieren würden, sondern weil man den Begriff nicht definiert hat. (Jedenfalls nicht verbindlich.)

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Zitat von Stefan am 12:04 - 24.September.2002

 

Eine Passage daraus hat mich etwas verwirrt:

  • "Da Sie nach dem ärztlichen Attest vom 21.9.1989 an einem ausgeprägten ecclesiogenen psychovegetativen Syndrom leiden, könnte es zweifelhaft sein, ob Sie diese Strafe inkurriert haben."

"Ecclesiogenes psychovegetatives Syndrom" - das klingt ja fast nach einer scherzhaft-psychologisierenden Umschreibung für den Glauben an sich. Gibt es das wirklich?

 

Das ist ein Begriff aus der Psychoanalyse/Psychotherapie, der sich auch im Register der anerkannten psychiatrischen Krankheiten befindet. Die meisten Psychotherapeuten (sofern sie keine orthodoxen Psychoanalytiker sind) machen um diesen Begriff einen gewissen Eiertanz, was z. B. Franz Buggle zu Recht seinen Kollegen vorwirft.

 

Abgeleitet ist der Begriff von der "ecclesiogenen Neurose", der Zusatz "psychovegetatives Syndrom" besagt, dass die Störung somatisch geworden ist, d. h. organische Symptome aufweist/verursacht hat.

 

Es handelt sich keineswegs um eine scherzhafte Psychologisierung sondern ist ernst gemeint. Selbst bei kirchennahen Organisationen ist dies bekannt und anerkannt behandlungsbedürftig, siehe Blaues Kreuz Diakoniewerk.

 

Den Begriff der "kirchenbedingten neurotischen Persönlichkeitsstörung" (so könnte man ecclesiogene Neurose umschreiben) hat Sigmund Freud geprägt. Bei seiner Analyse der Neurose hat er unübersehbare Parallelen zwischen allgemein neurotischer Persönlichkeitsstruktur und starkem Glauben gefunden. Von daher stammt seine Auffassung, jede Religiösität sei letztlich neurotisch (einer der Gründe, warum mehr als 90% aller Psychoanalytiker Atheisten sind).

 

Im Internet ist darüber sehr wenig zu finden, ich suche schon seit Anfang des Jahres nach guten Artikeln darüber, vergeblich. In Freuds gesammelten Werken und in Büchern über Psychopathologie ist einiges mehr zu finden.

 

Das extreme Gläubigkeit neurotisch ist, gilt auch unter vielen Klerikern als wenig umstritten (wenn sogar ein Werk der Diakonie dies als Indikation aufführt - siehe Link oben - dann kann man davon ausgehen, dass dies sowohl vorkommt als auch behandelt werden sollte). Der Unterschied liegt - wie so häufig - in der Diagnose, meist werden nur die Extremformen von kirchennahen Organisationen als zu behandelnde Störung begriffen, während der Glauben selbst als nicht-neurotisch bezeichnet wird, allerdings gibt es keine scharfe Grenzziehung, wie bei allen psychischen Störungen. Ein Beispiel dafür ist unter DAS JÜNGSTE GERICHT UND DIE CHRISTEN zu finden. Zitat daraus:

 

"Obwohl der Gegensatz schwach/stark also weder dem kleinen Kind schon bewußt ist noch in jeder Situation objektiv klar bestimmt werden kann, ist er dennoch entscheidend für unseren Glauben an das Jüngste Gericht. Die Verlängerung der ersten Linie bis in den Himmel ergibt nämlich genau jene heillose Angst vieler bedauernswerter Frommer, die zu Recht als "ecclesiogene Neurose" bezeichnet werden muß. Wenn jemand sich vor Gericht und Hölle fürchtet, weil er gegen ein übermächtiges Tabu verstoßen, etwa beim Zähneputzen vor der Kommunion etwas Wasser geschluckt oder am Freitag Fleisch gegessen hat: dann erlebt der Mensch sich selbst als schwach und Gott als überstark. Solche Religiosität ist - da hat Freud recht - eine Kollektiv-Neurose und hat mit Christentum nichts zu tun."

 

Nun hat jeder Mensch seine (leichten) Neurosen, und so lange dies nicht zu schweren Störungen in der Lebensführung führt, ist das auch nicht behandlungsbedürftig. Immerhin dürften wir uns schnell einige werden, dass man alles, wenn man es übertreibt, negativ wenden kann, und dies gilt auch für den Glauben. Allerdings sollte man auch nicht unterschätzen, dass der Übergang fließend ist. Auch hier im Board gibt es einige Kandidaten, die sich selbst mal kritisch fragen sollten, ob ihre Religiosität nicht ein wenig übertrieben ist - wobei ich nicht der Richtige bin, diese Kritik zu üben, das sollte lieber von den Katholiken hier kommen, sonst hätte der Betroffene eine zu leichte Abwehr dagegen (hat ja bloß ein Atheist behauptet).

 

Eines sollte nicht verschwiegen werden, was oft als Vorteil der Religiosität gesehen wird: Man kann selten zwei neurotische Störungen gleichzeitig voll ausbilden (so wie man nur bei starker Immunschwäche an zwei Infektionen gleichzeitig erkranken kann), deswegen ist ein unter ecclesiogener Neurose leidender Mensch weniger anfällig für andere neurotische Störungen - aber ob das erstrebenswert sein soll, weiß ich auch nicht ...

 

@Trilobit: Die meisten Krankheitsbegriffe sind umstritten, weil die Übergänge fließend sind. Wenn man die Definition der WHO für Krankheit nimmt, sind wir alle krank. Deswegen gibt es hier keine "verbindliche Definition", sondern allenfalls vage Umschreibungen, für Begriffe aus der Psychopathologie gilt dies umso mehr, weil dies bis in die Ideologien hineinreicht, und die Psychiatrie durchaus eine wenig ruhmvolle Vergangenheit diesbezüglich hat - in der ehemaligen Sowjetunion wurden Systemgegner auch gerne mal als geisteskrank eingestuft und eingesperrt. Die psychiatrischen Krankheitsdiagnosen bewegen sich nämlich um den Begriff des "abweichenden Verhaltens", und das ist eine ganz schön kniffliges Minenfeld voller ideologischer Stolperfallen ...

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@Volker

 

Freud, der den Krankheitswert des Glaubens entdeckt hat, sprach m.W. nicht von einem "psychovegetativen Syndrom" und die klassische Psychoanalyse demnach auch nicht. Glauben ist eine Neurose, die natürlich auch konvertieren kann. Aber die Konversionen führen nicht etwa zur Erkenntnis, daß jemand schreibt: die Evangelien sind keine Erkenntnis, sondern Dichtungen. Das ist ja gerade ein Zeichen der Ichstärke und der Genesung, so wie die Einsicht in einen Wahnsinn kein weiterer Wahnsinn sondern eine Erholung ist.

 

>@Trilobit: Die meisten Krankheitsbegriffe sind umstritten, weil die Übergänge fließend sind. Wenn man die Definition der WHO für Krankheit nimmt, sind wir alle krank. Deswegen gibt es hier keine "verbindliche Definition", sondern allenfalls vage Umschreibungen, für Begriffe aus der Psychopathologie gilt dies umso mehr, weil dies bis in die Ideologien hineinreicht, und die Psychiatrie durchaus eine wenig ruhmvolle Vergangenheit diesbezüglich hat - in der ehemaligen Sowjetunion wurden Systemgegner auch gerne mal als geisteskrank eingestuft und eingesperrt. Die psychiatrischen Krankheitsdiagnosen bewegen sich nämlich um den Begriff des "abweichenden Verhaltens", und das ist eine ganz schön kniffliges Minenfeld voller ideologischer Stolperfallen ...<

 

Die Krankheitsdefinition nach Freud ist funktional. D.h. krank ist etwas, wenn es nicht zufriedenstellend funktioniert. Danach sollte es m.E. auch bei den wissenschaftlichen Taxoniomien gehen.

 

Nicht so bei den gesellschaftlichen. Daß die ICD und DSM-Definitionen nicht wissenschaftlich, sondern phänomenologisch-funktional sind, ist klar. Die Schlüssel dienen ja der Abrechnung und der Verständigung über alle Schulen hinweg. Und deshalb müssen amtliche oder sonstige Entscheidungen auf einer verbindlichen und konsenten Definition beruhen. Es ist bemerkenswert, daß gerade ein Priester diesen Begriff in einer Exkommunikation verwendet ... weil doch jeder das anzweifeln kann. Hätte er das geschrieben, was auf dem Krankenschein stand, die Nummer oder "Konversionsstörung", wäre das doch sicher gewesen.

 

Trilo

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