iskander Geschrieben 21. Juni Melden Geschrieben 21. Juni vor 9 Stunden schrieb Merkur: Sich gegenseitig in Ruhe lassen und bei seinem Fach bleiben. Mit der Art von Religion, die mit Philosophie und Wissenschaft vergleichbar wäre, ist heute, da hat Marcellinus recht, nicht mehr viel zu gewinnen. Da verstehst Du mich jetzt falsch. Ich habe an dieser Stelle nirgendwo Forderungen dazu gestellt, wie die drei genannten "Unternehmungen" miteinander umgehen "sollten". Es ging mir um etwas anderes: Man kann Religion, Philosophie und Wissenschaft im Hinblick auf ihre jeweiligen Anspruch und ihre Erkenntnismöglichkeiten (soweit vorhanden) miteinander vergleichen und sie diesbezüglich zueinander in Beziehung setzen. Das hat nicht nur Comte getan, sondern das wird auch in diesem Thread zumindest implizit andauernd getan. Die Sichtweisen sie dabei recht unterschiedlich, wie man sieht: Manche gehen davon aus, dass es sich um konkurrierende Systeme handelt, die einander ablösen, während andere das weit von sich weisen. Manche meinen, dass alle drei Systeme etwas mit "Erkenntnis" zu tun haben, andere streiten das ab. Mir ging es hier einfach um die Grundlage, auf der man potentiell zu vernünftigen Einschätzungen zu solchen Fragestellungen gelangen kann. Die Grundlage besteht aus meiner Sicht vereinfacht gesagt darin, dass man versucht, Religion, Philosophie und Wissenschaft und ihre jeweiligen Vorgehensweisen zu verstehen, um dann zu (hoffentlich) begründeten Aussagen zu gelangen. Das wäre grundsätzlich die Art und Weise wie Philosophen vorgehen. Nun wird jedoch behauptet (zum Teil in anderen Threads), dass man auf eine ganz andere Art vorgehen könne, die zudem auch noch weit zielführender sei: Nämlich indem man geeignete empirisch-sozialwissenschaftliche Untersuchungen durchführt. Und hierzu war meine Anmerkung, dass ich nicht zu erkennen vermag, wie das funktionieren sollte. Selbstredend kann man empirisch-soziologisch die spezifisch sozialen Aspekte von Wissenschaft, Philosophie und Religion untersuchen und miteinander vergleichen - wie aber soll man die Erkenntnismöglichkeiten und Erkenntnisgrenzen von Wissenschaft, Philosophie und Religion durch sozialwissenschaftliche Untersuchungen bestimmen? Das war mein Punkt: Dass genau das nicht funktionieren kann. Und dasselbe gilt aus meiner Sicht auch für andere Fragestellungen, die man klassischerweise in der Philosophie verortet. Ich verstehe zwar beispielsweise vollkommen, wie man mithilfe der Methoden der empirischen Sozialforschung folgende Fragen untersuchen kann: - Welche sozialen Faktoren veranlassen eine bestimmte Gruppe dazu, eine bestimmte Überzeugung als "Wissen" oder als "Wissenschaft" zu betrachten, während eine andere soziale Gruppe an der gleichen Stelle nur die reine Behauptungen, den Irrtum und vielleicht eine Pseudo-Wissenschaft auszumachen vermag? (Man denke an die Debatten in diesem Thread, auch wenn die Positionen diplomatischer formuliert werden.) - Welche sozialen Faktoren veranlassen eine bestimmte Gruppe dazu, zu glauben, dass Theorie und Empirie sich auf eine gewisse Weise zueinander verhalten sollten, wenn eine Tatsachenwissenschaft erkenntnisfördernd sein soll? Das sind soziologische Fragestellungen, und es ist auch prinzipiell ersichtlich, wie man sie empirisch-sozialwissenschaftlich untersuchen kann (egal wie gut das dann in der Praxis getan werden kann). Aber was ist beispielsweise mit folgenden Fragen, welche als klassisch philosophisch gelten: - Ist eine bestimmte Überzeugung tatsächlich "Wissen", und ist eine bestimmte Disziplin tatsächlich "Wissenschaft"? Was spricht womöglich für, was gegen eine solche Einschätzung? - Sollten Theorie und Empirie tatsächlich in einer ganz bestimmten Wechselbeziehung stehen, damit Tatsachenwissenschaften dem Erkenntnisfortschritt dienen können? Ich vermag nicht zu erkennen, wie man derartige Fragen mit den Methoden der empirischen Sozialforschung adressieren, geschweige denn beantworten könnte. Die Vertreter der Sociology of Knowledge scheinen das durch die Bank genauso zu sehen: Sie stellen "philosophische" Fragen der letzteren Art gar nicht ersetzen, sondern ersetzen sie durch Fragen dazu, wie bestimmte soziale Gruppen derartige Fragen beantworten, und welche sozialen Faktoren ihre Antworten beeinflussen. Der einzig mir bekannte Soziologe, der meint, dass man klassische philosophische Fragen soziologisch beantworten könne, wäre Norbert Elias, auf welchen @Marcellinussich bezieht. Ob Elias der These folgen würde, dass man bei den entsprechenden Fragen allein durch empirische Sozialforschung zu Erkenntnissen gelangen kann, sei dahingestellt. Jedenfalls adressiert Elias eine erhebliche Anzahl von Themen, die man klassischerweise der Philosophie zuordnen würde. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit äußert er folgende Thesen: - Dass die Wissenschaft zwar keine "absoluten Wahrheiten" liefern könne, aber dennoch Erkenntnisse von Wert. - Dass in den Tatsachenwissenschaften Theorie und Empirie in einer bestimmten, näher beschriebenen Weise in einem Wechselspiel stehen (und das offenbar auch müssen, damit Wissenschaft fruchtbar ist). - Dass die Wissenschaft verschiedene Formen von Schlüssen benötigt - solche vom Allgemeinen aufs Einzelne und (eventuell kontra Popper) eben auch solche vom Einzelnen auf Allgemeine. - Dass dessen ungeachtet unterschiedliche Wissenschaften jeweils spezifische Methoden benötigen. - Dass zwar die formale Logik hilfreich sei, aber nicht jener vermeintliche Apriorismus, den Popper teilweise mit dem Stichwort "Logik" verbindet. - Dass die Wirklichkeit sich aus Schichten zusammensetzt (seine Gedanken entsprechen an dieser Stelle dem, was man in der Philosophie als "Schichtenontologie" bezeichnen würde). Elias betont (zurecht), dass die Wissenschaft eine gemeinschaftliche, generationenübergreifende menschliche Bemühung ist, bei der man auf den Erkenntnissen der anderen aufbaut. Soweit er sich zu den gerade genannten Punkten äußert, rechtfertigt er seine Thesen jedoch gerade nicht mit Bezug auf die sozialen Aspekte der Wissenschaften; und erst recht keine empirisch-soziologischen Untersuchungen vor, die seine Auffassungen belegen würden. Wie sollte er auch? Hier geht es ja gerade nicht um die sozialen, sondern um die sachlogischen und methodologischen Gesichtspunkte von Wissenschaft. Wenn sich klassische philosophische Fragen tatsächlich durch sozialwissenschaftliche, empirische Forschungen beantworten lassen: Warum streitet die Sociology of Scientific Knowledge das dann nicht nur ab, sondern wichtiger: Wieso findet man dann nicht ein einziges Beispiel dafür, wie das konkret gehen sollte? Zitieren
iskander Geschrieben 21. Juni Melden Geschrieben 21. Juni vor 1 Stunde schrieb rorro: In der Philosophie - denn die Gottesbeweise des Aquinaten sind keine Theologie - ist "Scheitern" eh ein fragwürdiges Kriterium. Wer mag das denn feststellen, anhand welcher Kriterien und mit welcher Autorität? Man kann es nur dadurch feststellen, dass man im konkreten Einzelfall entweder aufzeigt, dass die Prämisse nicht überzeugend sind, oder indem man nachweist, dass man es mit einem ´Fehlschluss im eigentlichen Sinne zu tun hat. Dein Argument stellt aber einen Bumerang dar: Wenn niemand feststellen könnte, ob ein (bestimmtes) philosophisches Argument "gescheitert" ist, dann könnte auch niemand feststellen, ob es tauglich ist. Zitieren
iskander Geschrieben 21. Juni Melden Geschrieben 21. Juni vor 11 Stunden schrieb Weihrauch: Aha. Das Buch Genesis als Ausgangspunkt grenzt die Sache etwas ein, und bei der Vereinbarkeit geht es eigentlich um die Harmonisierung von Vernunft und Glaube. Im Judentum? Im Christentum? Im Islam? Der drei abrahamitischen Religionen untereinander? Hinduismus ist damit selbstverständlich nicht harmonisierbar, weil er unvernünftig, und Ganesha Milch zu opfern Aberglaube ist. Nein, weil die Naturwissenschaft die Frage, ob es Ganesha gibt und ob es sinnvoll ist, ihm Milch zu opfern, nicht adressieren kann. Ein Widerspruch kann nur dort bestehen, wo Behauptungen aufgestellt werden, die wissenschaftlich prüfbar sind. Zitieren
Marcellinus Geschrieben 21. Juni Melden Geschrieben 21. Juni vor 10 Minuten schrieb iskander: Der einzig mir bekannte Soziologe, der meint, dass man klassische philosophische Fragen soziologisch beantworten könne, wäre Norbert Elias, auf welchen @Marcellinussich bezieht. Ob Elias der These folgen würde, dass man bei den entsprechenden Fragen allein durch empirische Sozialforschung zu Erkenntnissen gelangen kann, sei dahingestellt. Jedenfalls adressiert Elias eine erhebliche Anzahl von Themen, die man klassischerweise der Philosophie zuordnen würde. Elias äußert sich zu solchen philosophischen Fragen, die sich besser mit wissenschaftlichen Mitteln beantworten lassen. Typische philosophische Fragen sind aber metaphysischer Art, deren Antworten sich nicht durch Tatsachenbeobachtungen belegen lassen. Da haben Wissenschaften nichts verloren, allerdings bleiben diese Fragen üblicherweise entweder unbeantwortet, oder man muß die Antworten glauben. Zitieren
Marcellinus Geschrieben 21. Juni Melden Geschrieben 21. Juni vor 3 Stunden schrieb Frey: Viele Gläubige leben aus einem Grundvertrauen heraus – nicht aus Wissen, sondern aus Hoffnung und Liebe. Das ist eine Haltung, die viele religiöse Traditionen teilen. Eine Katze ist anders. Sie geht, wenn sie schlecht behandelt wird. Ich denke, wir alle leben aus einem Grundvertrauen heraus, Katzen eingeschlossen. Ich lebe mit ihnen seit über 35 Jahren zusammen und habe viele kommen und gehen sehen, und immer wieder erlebt man bedauernswerte Geschöpfe, die man zu früh von ihrer Mutter weggenommen hat, und die ein Leben lang (was aber meist nicht lange währt) entweder überängstlich oder aggressiv sind, oder beide. Ich bin der festen Auffassung, daß es uns Menschen nicht anders geht. Wir alle sind existenziell darauf angewiesen, am Beginn unseres Lebens ein Grundvertrauen zu entwickeln, und dazu brauchen wir die Menschen, in deren Obhut wir aufwachsen. Was da versäumt wird, ist später kaum noch aufzuholen, hat aber mit Religion ursprünglich nichts zu tun, wird aber oft von ihnen gekapert, wie ich überhaupt das Gefühl habe, daß gerade das Christentum sind zumindest einer Terminologie bedient, die ursprünglich aus zwischenmenschlichen, hauptsächlich sogar familiären Zusammenhänge stammt. vor 3 Stunden schrieb Frey: Das ist ein Bild für innere Freiheit und Unabhängigkeit. Glaube ist auch ein Wagnis. Es ist nie ein „Beweis“ im wissenschaftlichen Sinn, sondern eine Entscheidung, sich auf das Unbekannte, auf das Geheimnis Gottes einzulassen. Ja, Menschen verehren seit Jahrtausenden Götter, und jedes Zeitalter hat seine eigenen Vorstellungen. Die alten Götter sind heute nicht mehr aktuell. Das spricht dafür, dass unsere Gottesbilder immer menschlich, zeitgebunden und fehlbar sind. Ja, Freiheit und Unabhängigkeit ist eine Entscheidung, der Glaube an Götter dagegen nicht, jedenfalls nicht immer, so zumindest meine Erfahrung. Viele Religionen, besonders die, die man "Bekenntnisreligionen" nennen könnte, geben sich viel Mühe, möglichst unmündige Kinder an ihren Glauben heranzuführen, weil, so muß ich vermuten, sie bei Erwachsenen weit weniger Erfolg hätten. Ja, Menschen haben seit Jahrtausenden Götter verehrt, und wie du richtig sagst, sagen diese Gottesbilder etwas über die ganz unterschiedlichen Wünsche und Bedürfnisse der jeweiligen Menschen. Zusammen mit meinem Interesse für Geschichte habe ich auch früh etwas über die Gottesvorstellungen antiker Völker erfahren (eher als über die des Christentums). Das einzige was mir auffiel, war, wie unterschiedlich sie waren, und daß sie verschwunden sind mit den Gesellschaften, die sie hervorgebracht haben. Daß das Christentum bei einigen nachgeholfen hat, wußte ich damals noch nicht, aber ich fand merkwürdig, daß sie von ihren Göttern mindestens ebenso überzeugt waren, wie die Gläubigen heute. Ich erkannte, daß Götter verschwinden können, und wenn das für die damaligen galt, so auch für die, die heute verehrt werden. Genau das habe ich die letzten Jahrzehnte beobachten können. Gesagt haben mir diese Gottesvorstellungen nichts, weder die damaligen noch die heutigen. vor 3 Stunden schrieb Frey: Aber das bedeutet nicht zwangsläufig, dass es keinen Gott gibt. Es bedeutet nur, dass wir Menschen Gott nie ganz erfassen können. Unsere Vorstellungen sind immer bruchstückhaft. Wie könnte ein sinnvolles Kriterium für den Gottesbeweis aussehen? Ein Beweis für Gott müsste zwei Bedingungen erfüllen: 1. Er müsste für alle Menschen nachvollziehbar sein. Nicht nur für Gläubige, sondern auch für Skeptiker und Atheisten. 2. Er müsste überzeitlich gültig sein. Nicht nur in einer bestimmten Kultur oder Epoche, sondern immer und überall. Das ist eine hohe Hürde – aber keine unmögliche. In der Theologie spricht man oft von „Offenbarung“: Gott zeigt sich den Menschen, aber immer auf eine Weise, die ihre Freiheit respektiert. Religion bleibt ein freies Ja, kein Automatismus. Das mit dem Beweis, der Skeptiker und Atheisten überzeugt, kann als erledigt betrachtet werden angesichts der Tatsachen, daß die Religionen, die ich kenne, nicht einmal alle die überzeugen, die in sie hinein"erzogen" wurden (Voltaire war übrigens ein Jesuiten-Schüler). Natürlich gibt es immer wieder Beispiele von Leute, die plötzlich irgendwelche "Erleuchtungen" haben, aber erstens beruhen die nicht auf Argumenten (jedenfalls soweit ich weiß), und zweitens sind es Einzelfälle. Der Zug der Zeit fährt in die entgegengesetzte Richtung, und für ihn sprechen nachvollziehbare Argumente. vor 3 Stunden schrieb Frey: Gott lässt sich nicht in diesem Sinne beweisen. Aber er lässt sich erfahren – in der Liebe, in der Schönheit, im Leiden, in der Hoffnung. Das ist eine tiefe, existenzielle Erfahrung. Dein Bild der Katze ist schön: Es steht für innere Freiheit und Unabhängigkeit. Aber vielleicht ist es auch möglich, diese Freiheit mit Vertrauen zu verbinden – nicht als Schwäche, sondern als Stärke. „Wer sucht, der findet – wer anklopft, dem wird aufgetan.“ In diesem Sinne: Die Suche nach Gott ist immer auch eine Suche nach uns selbst – und nach dem, was uns übersteigt. Nun, was "uns übersteigt", ist wohl das, was der protestantischer Theologe und Philosoph Friedrich Schleiermacher mit „Sinn und Geschmack fürs Unendliche" meinte. Das ist nicht so meins. Ich hab eher "Sinn und Geschmack fürs Endliche". Damit bin ich vollkommen ausgelastet. Mein Lebensweg hat ohne Religion begonnen, schon vor meiner Geburt. Ich sehe mich (wie alle anderen Menschen auch) in einer ununterbrochenen Kette von Generationen. Jedes Mitglied dieser Kette startet bei einem bestimmten Stand der Erkenntnis, lernt im günstigen Fall im Laufe seines Lebens dazu, und gibt dies, so er Kinder hat, an die nächste Generation weiter. Soweit es sich nachvollziehen läßt, ist meine Familie seit Jahrhunderten protestantisch (vermutlich sogar lutherisch), hat also die Welt der Heiligen und Wunder schon vor langer Zeit hinter sich gelassen. Wenigstens zwei Generationen vor mir war für mein Vorfahren Religion nur noch eine bürgerliche Konvention, und so weitgehend ohne Religion aufgewachsen, habe ich dann die letzen Schritt gemacht, und die lutherische Kirche verlassen. Übrigens nicht im Zorn, denn sie hatte mir ja nichts getan, ich teilte nur einfach ihren Glauben nicht. Das habe ich übrigens seitdem häufig erlebt: vor allem Lutherische verlassen ihre Kirche meist ohne Groll, sehr im Unterschied zu Katholiken, die offenbar sehr mit sich und ihrer Kirche ringen. Nun, meine Kinder sind nie Mitglied einer Kirche gewesen, und können mit Religion nichts anfangen, sind aber sonst guter Dinge. Wie heißt es so schön: sie sind weder Gläubige noch Atheisten, ganz normal eben. 😉 Mein Lebensweg ist also eine Folge von Entscheidungen, meiner Vorfahren wie meiner eigenen, und jede Entscheidung macht eine neue Tür auf, und zwangsläufig eine andere zu. Für dich mag das schwer zu verstehen sein, aber mein Weg weg von Religion lag schon vor meiner Geburt fest - und das ist gut so! 😄 1 Zitieren
Frey Geschrieben 21. Juni Melden Geschrieben 21. Juni (bearbeitet) vor 29 Minuten schrieb Marcellinus: Übrigens nicht im Zorn, denn sie hatte mir ja nichts getan, ich teilte nur einfach ihren Glauben nicht. Das habe ich übrigens seitdem häufig erlebt: vor allem Lutherische verlassen ihre Kirche meist ohne Groll, sehr im Unterschied zu Katholiken, die offenbar sehr mit sich und ihrer Kirche ringen. Nun, meine Kinder sind nie Mitglied einer Kirche gewesen, und können mit Religion nichts anfangen, sind aber sonst guter Dinge. Wie heißt es so schön: sie sind weder Gläubige noch Atheisten, ganz normal eben. 😉 Mein Lebensweg ist also eine Folge von Entscheidungen, meiner Vorfahren wie meiner eigenen, und jede Entscheidung macht eine neue Tür auf, und zwangsläufig eine andere zu. Für dich mag das schwer zu verstehen sein, aber mein Weg weg von Religion lag schon vor meiner Geburt fest - und das ist gut so! 😄 Ein sehr guter und ehrlicher Beitrag, dafür vielen Dank! Er ist keineswegs schwer zu verstehen, sondern spricht mir und vermutlich vielen Menschen aus dem Herzen. Ich finde deine Argumentation völlig nachvollziehbar und plausibel. Die Prägung in der Kindheit spielt eine entscheidende Rolle – und ich zähle mich durchaus zu den Anhängern des Bourdieuschen Habituskonzepts. Ich möchte noch einmal betonen, dass ich in keiner Weise missionarisch agiere, auch wenn ich offenbar so wirken mag, den Beiträgen folgend. Auf meinem langen Weg bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass ich nichts Besseres gefunden habe als das, was wir „katholisch“ nennen. Im Kern stehen für mich persönlich drei Argumente: 1. Ich bin überzeugt, dass meine Sicht auf den Menschen – einschließlich auf mich selbst – grundlegend anders ist, wenn ich von der Existenz Gottes ausgehe. Das Konzept des Menschen als Ebenbild Gottes prägt meinen Blick auf die Welt. 2. Ich glaube, dass unserer modernen Gesellschaft einige Weisheiten des katholischen Glaubens guttäten, weil sie bestimmte Probleme unserer Zeit lindern könnten. 3. Außerdem erkenne ich – neben den negativen Aspekten – in den positiven Geschichten der Kirche einen reichen Schatz an normativen Ideen, kulturellen Werten sowie an Musik und Kunst. Darauf möchte ich nicht verzichten – und das ist, zugegebenermaßen, ein etwas hedonistisches Motiv - oder nennen wir es katholische Lebensfreude 😉 - insofern auch Gratulation an @Cosifantutti für die schöne Threaderöffnung. bearbeitet 21. Juni von Frey Zitieren
Merkur Geschrieben 21. Juni Melden Geschrieben 21. Juni vor 2 Stunden schrieb iskander: Es ging mir um etwas anderes: Man kann Religion, Philosophie und Wissenschaft im Hinblick auf ihre jeweiligen Anspruch und ihre Erkenntnismöglichkeiten (soweit vorhanden) miteinander vergleichen und sie diesbezüglich zueinander in Beziehung setzen. Meiner Meinung nach kann man das nicht ohne weiteres. Die Reihenfolge Religion - Philosophie - Wissenschaft mag zwar chronologisch stimmen, läßt aber die unterschiedliche Herkunft dieser Unternehmungen unberücksichtigt. Religion war und ist ein Massenphänomen. Die Priesterschaft und die Theologie/das Lehramt entstanden aus der Masse der Gläubigen und haben sich im Laufe der Zeit verselbständigt. Die Philosophie war von Beginn an ein Oberschichtenphänomen. Philosophieren konnte nur, wer nicht für seinen Lebensunterhalt sorgen mußte. Mit der an Universitäten gelehrten Wissenschaft war es ähnlich. Das Lehramt und die Theologie der Religionen haben sich zwar ebenfalls zu einem Oberschichtenphänomen entwickelt, so dass sie mit Philosophie und WIssenschaft interagieren können, aber sie machen nicht den wesentlichen Inhalt einer Religion aus. Religion lebt aus dem Volksglauben, nicht aus ihrer Theologie. Die Gottesbeweise des Thomas von Aquin dürften z.B. für 95% der Christen völlig bedeutungslos sein. Dementsprechend ist (nach meinem Dafürhalten) das Erkenntnisinteresse der Religion auch ein anderes als das, worüber in solchen Vergleichen mit WIssenschaft und Philosopie gesprochen wird. Trennt man die Theologie vom Volksglauben ab, bleibt keine lebensfähige Religion übrig. Der Elfenbeinturm, der da übrig bleibt, kann nicht mit der Philosophie und schon gar nicht mit der Wissenschaft konkurrieren. Zitieren
Marcellinus Geschrieben 21. Juni Melden Geschrieben 21. Juni vor 18 Minuten schrieb Merkur: Trennt man die Theologie vom Volksglauben ab, bleibt keine lebensfähige Religion übrig. Der Elfenbeinturm, der da übrig bleibt, kann nicht mit der Philosophie und schon gar nicht mit der Wissenschaft konkurrieren. Nicht daß ich widersprechen möchte, aber darüber könnte man Bücher schreiben. Die Philosophie sitzt nämlich mit der Theologie im Elfenbeinturm Tür an Tür, und würde nicht überleben, wenn sie nicht von den überaus spendablen öffentlichen Händen großzügig alimentiert würde, ohne daß übrigens etwas Adäquates herauskommen würde. Die Wissenschaften dagegen haben, jedenfalls in ihren produktiven Teilen, den Elfenbeinturm namens Universität weitgehend verlassen, und verdienen ihr Brot im Verein mit Industrie und Wirtschaft. 1 Zitieren
Merkur Geschrieben 21. Juni Melden Geschrieben 21. Juni vor 10 Minuten schrieb Marcellinus: Nicht daß ich widersprechen möchte, aber darüber könnte man Bücher schreiben. Die Philosophie sitzt nämlich mit der Theologie im Elfenbeinturm Tür an Tür, und würde nicht überleben, wenn sie nicht von den überaus spendablen öffentlichen Händen großzügig alimentiert würde, ohne daß übrigens etwas Adäquates herauskommen würde. Das stimmt schon, aber sie ist zumindest noch für das Feuilleton gut. 1 Zitieren
Marcellinus Geschrieben 21. Juni Melden Geschrieben 21. Juni vor 1 Minute schrieb Merkur: vor 16 Minuten schrieb Marcellinus: Nicht daß ich widersprechen möchte, aber darüber könnte man Bücher schreiben. Die Philosophie sitzt nämlich mit der Theologie im Elfenbeinturm Tür an Tür, und würde nicht überleben, wenn sie nicht von den überaus spendablen öffentlichen Händen großzügig alimentiert würde, ohne daß übrigens etwas Adäquates herauskommen würde. Das stimmt schon, aber sie ist zumindest noch für das Feuilleton gut. Auf den Punkt! 😄 Zitieren
KevinF Geschrieben 22. Juni Melden Geschrieben 22. Juni 10 hours ago, Weihrauch said: Warum an die Existenz Gottes zu glauben, deinem Anspruch auf intellektuelle Redlichkeit widersprechen sollte, hat sich mir in all deinen Ausführungen nie erschlossen. Ich höre da höchstens die Unterstellung von dir anderen gegenüber heraus, eine intellektuelle Unredlichkeit zu begehen, wenn sie an die Existenz Gottes glauben. Ich habe geschrieben, dass ich meinen eigenen Anspruch auf intellektuelle Redlichkeit mir selbst gegenüber, mein Streben mir nicht selbst in die Tasche zu lügen, nicht mit dem Glauben an die Existenz Gottes vereinbaren kann. Das ist die Wahrheit, das ist Teil meiner Biographie. Ein Vorwurf gegenüber anderen ist in dieser Aussage nicht enthalten, den hast Du erfunden. 10 hours ago, Weihrauch said: Warum an die Existenz Gottes zu glauben, deinem Anspruch auf intellektuelle Redlichkeit widersprechen sollte, hat sich mir in all deinen Ausführungen nie erschlossen. Ist eigentlich ganz einfach: Die Hypothese der Existenz Gottes ist für die Beschreibung und Erklärung der Welt sowie für Moral überflüssig. Nimmt man noch die Theodizee-Frage hinzu, hat man sehr starke Argumente gegen die Existenz Gottes. Ein gewisser wissenschaftlicher Restzweifel mag bleiben, aber für ein Unentschieden ist mir das zu wenig. Ich kann die Existenz Gottes also nicht zu 100% ausschließen (naja, die des Theodizee-Gottes schon, aber ich will nicht zu sehr ins Detail gehen...), aber ich glaube eben auch nicht an sie. Zitieren
KevinF Geschrieben 22. Juni Melden Geschrieben 22. Juni 6 hours ago, rorro said: In der Philosophie - denn die Gottesbeweise des Aquinaten sind keine Theologie - ist "Scheitern" eh ein fragwürdiges Kriterium. Wer mag das denn feststellen, anhand welcher Kriterien und mit welcher Autorität? Die Gottesbeweise können jedenfalls keinen Anspruch auf allgemeine Geltung der Gotteshypothese begründen. Ein starkes Indiz dafür ist schon mal, dass ein solcher Anspruch im allgemeinen tatsächlich nicht anerkannt wird in unserer Gesellschaft. Wenn man inhaltlich arbeiten möchte, muss man Prämissen und Schlussfolgerungen überprüfen, hat @iskander ja schon geschrieben. Möchtest Du es im Detail durchgehen? Zitieren
Weihrauch Geschrieben 22. Juni Melden Geschrieben 22. Juni vor 13 Stunden schrieb Weihrauch: vor 20 Stunden schrieb iskander: Wenn man nicht gerade auf einer wörtlichen Interpretation des Buches Genesis beharrt, wird eine Harmonisierung wohl durchaus möglich sein. Aha. Das Buch Genesis als Ausgangspunkt grenzt die Sache etwas ein, und bei der Vereinbarkeit geht es eigentlich um die Harmonisierung von Vernunft und Glaube. Im Judentum? Im Christentum? Im Islam? Der drei abrahamitischen Religionen untereinander? Hinduismus ist damit selbstverständlich nicht harmonisierbar, weil er unvernünftig, und Ganesha Milch zu opfern Aberglaube ist. vor 1 Stunde schrieb iskander: Nein, weil die Naturwissenschaft die Frage, ob es Ganesha gibt und ob es sinnvoll ist, ihm Milch zu opfern, nicht adressieren kann. Ein Widerspruch kann nur dort bestehen, wo Behauptungen aufgestellt werden, die wissenschaftlich prüfbar sind. Die Naturwissenschaft kann die Frage, ob es JHWH gibt und ob es sinnvoll ist, im Tiere zu opfern, genau so wenig adressieren, wie die Frage, ob es Ganesha gibt und ob es sinnvoll ist, ihm Milch zu opfern. "Wenn man nicht gerade auf einer wörtlichen Interpretation der Purana beharrt, wird eine Harmonisierung von Vernunft und Glaube wohl durchaus möglich sein." Warum nicht auch dort, wenn es im Buch Genesis durchaus möglich ist. Hinduismus ist bloß ein anderer Glaube. Übrigens bedeutet der Name Ganesha "Gebieter der Scharen" ziemlich das Gleiche wie im hebräischen das Wort zebaoth für die Schar bzw. das Heer und bildet in Kombination mit elohim oder JHWH den Gottesnamen "Herr der Heere" oder "Herr der Heerscharen" beispielsweise in 1 Sam 17,45, das erste Mal im von dir angesprochenen Buch Genesis, dort sind allerdings die Gestirne in Anspielung auf den Gott Marduk gemeint: Zitat Gen 2,1-2 So wurden die Himmel und das Land und all ihr Heer (zebaoth) vollendet. Und elohim vollendete am siebten Tag sein Werk, das er gemacht hatte; und er ruhte am siebten Tag von all seinem Werk, das er gemacht hatte. Wo habe von einem Widerspruch gesprochen? "Ein Widerspruch kann nur dort bestehen, wo Behauptungen aufgestellt werden, die wissenschaftlich prüfbar sind." Echt jetzt? Was ist mit dem Widerspruch, wenn ich behaupte, dass ein Widerspruch auch dort besteht, wo Behauptungen aufgestellt werden, die wissenschaftlich nicht prüfbar sind? Hier im Forum wimmelt es nur so von solchen Widersprüchen, weil, wie du oben selbst sagst, die Naturwissenschaft vieles gar nicht adressieren kann. Zitieren
gouvernante Geschrieben 22. Juni Melden Geschrieben 22. Juni vor 17 Stunden schrieb Marcellinus: Einer der Gründe, warum ich vor einiger Zeit mal schrieb, dass ich mich selbst nicht als Atheist bezeichnen würde. Als was würdest Du Dich dann bezeichnen, falls man Dich fragt? Agnostiker? Zitieren
Marcellinus Geschrieben 22. Juni Melden Geschrieben 22. Juni vor 2 Stunden schrieb gouvernante: vor 20 Stunden schrieb Marcellinus: Einer der Gründe, warum ich vor einiger Zeit mal schrieb, dass ich mich selbst nicht als Atheist bezeichnen würde. Als was würdest Du Dich dann bezeichnen, falls man Dich fragt? Agnostiker? Einfach als nichtreligiös. Zitieren
iskander Geschrieben 22. Juni Melden Geschrieben 22. Juni (bearbeitet) Am 21.6.2025 um 21:49 schrieb Marcellinus: Elias äußert sich zu solchen philosophischen Fragen, die sich besser mit wissenschaftlichen Mitteln beantworten lassen. Typische philosophische Fragen sind aber metaphysischer Art, deren Antworten sich nicht durch Tatsachenbeobachtungen belegen lassen. Da haben Wissenschaften nichts verloren, allerdings bleiben diese Fragen üblicherweise entweder unbeantwortet, oder man muß die Antworten glauben. Sicher? Nimm die Frage, in welchem Verhältnis Theorie und Empirie in den Tatsachenwissenschaften zueinander stehen. Das ist eine Fragestellung, die man normalerweise als eine typisch erkenntnistheoretische bzw. wissenschaftstheoretische betrachten würde. Der klassische philosophische Ansatz bestünde darin, dass man sich ansieht, wie die Wissenschaften tatsächlich arbeiten, und dass man zugleich zu verstehen versucht, wieso die wissenschaftliche Arbeitsweise angesichts der menschlichen Erkenntnismöglichkeiten und Erkenntnisgrenzen tatsächlich dazu geeignet ist, einen Erkenntnisfortschritt zu ermöglichen. Lässt sich eine solche Frage auch - und sogar besser - mit den Mitteln der Sozial- oder der Naturwissenschaften untersuchen? Man kann mit den Mitteln der empirischen Sozialforschung gewiss erforschen, welche sozialen Faktoren dafür (mit)verantwortlich sind, dass eine bestimmte Gruppe eine bestimmte Meinung über das Verhältnis von Theorie und Empirie hat. Kann man durch sozialwissenschaftliche Studien auch herausfinden, wie sich sich Theorie und Empirie in den Tatsachenwissenschaften tatsächlich zueinander verhalten? Und ist die Frage, warum eine bestimmte Art des Zusammenspiels von Theorie und Empirie einen Erkenntnisfortschritt ermöglicht, dadurch zu beantworten, dass man das faktisch beobachtbare "menschliche Miteinander" genauer untersucht? Und natürlich arbeiten die Naturwissenschaften mit "Theorie" und "Empirie", mit "Bestätigung" und "Widerlegung", mit "Kohärenz" und "wissenschaftlichen Erklärungen"; aber sind solche "Entitäten" natürliche Phänomene im Sinne der Naturwissenschaften (ganz so wie Metalle, Pflanzen und Sterne) die man entsprechend mit naturwissenschaftlichen Methoden untersuchen könnte? Oder ist beispielsweise eine "Theorie" nicht doch etwas kategorial anderes als ein Stein, eine Pflanze oder auch ein Elektron? Kann man mit Mikroskopen und Teleskopen, mit Geigerzählern und Reagenzgläsern erforschen, was eine "Theorie" ist und wie sie sich zur "Empirie" verhält - oder bedarf es zur Klärung solcher Fragen einer anderen grundsätzlich anderen Art der Herangehensweise? An keiner Stelle, an der Elias die Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Empirie behandelt, oder auch andere Fragen, welche man klassischerweise der Erkenntnistheorie oder der Wissenschaftstheorie zuordnen würde, verweist er jemals auf sozialwissenschaftliche oder naturwissenschaftliche Forschungen, die seine entsprechenden Auffassungen belegen würden. Oder? (Elias argumentiert an den entscheidenden Stellen hier wenig, aber es hat zumindest den Anschein, dass er ganz so vorgeht, wie ein Philosoph das tut: Er schaut sich an, wie die Wissenschaften funktionieren und versucht, zu begreifen, was da passiert; und er versucht wohl durchaus auch zu verstehen, warum das, was da passiert, im Sinne des Gewinns von Erkenntnissen sinnvoll ist.) Die Metaphysik ist zu einer Zeit entstanden, als es die Naturwissenschaften nur in rudimentärer Form gab und eine Trennung von Philosophie und Naturwissenschaften noch nicht gegeben war. Das mag die Sache historisch etwas komplizierter machen. Zumindest die modernere Metaphysik steht aber gewiss nicht in einem Konkurrenz-Verhältnis zur Philosophie. In den Naturwissenschaft und auch in den Sozialwissenschaften spielt beispielsweise der Begriff der "Kausalität" eine entscheidende Rolle. Oft wird etwa gesagt, dass man zwar eine Korrelation gefunden habe, dass aber noch weiter zu untersuchen sei, ob auch Kausalität vorliegen. Der Unterschied ist in der Tat von großer Wichtigkeit. Die Metaphysik erforscht nicht konkrete natürliche oder soziale Gegebenheiten und ihre konkreten kausalen Beziehungen - das wäre Aufgabe der Natur- bzw. Sozialwissenschaften. Aber sie versucht beispielsweise zu verstehen, was Kausalität ist und welche sachlichen Bedingungen vorliegen müssen, damit wir den Kausal-Begriff anwenden; oder sie versucht zu klären, wie das Verhältnis von Kausalität zu logischen "Entitäten" wie notwendigen und hinreichenden Bedingungen aussieht. Dabei schaut sie sich etwa Beispiele aus der realen Welt an, oder auch hypothetische Fälle, bei denen man sagen würde, dass kausale Beziehungen bestehen bzw. nicht bestehen, und versucht diese Fälle zu analysieren und aus ihnen zu lernen. Könnte und sollten sich Soziologie und Naturwissenschaft anstatt der Philosophie um die Klärung des (von ihnen ja oft verwendeten!) Kausal-Begriffs kümmern? Kann man mithilfe soziologischer Untersuchungen oder des Reagenzglases klären, was Kausalität ausmacht? Wenn ja, wie? Und wenn ja, wieso versucht es dann kein (namhafter?) Soziologe und kein Naturwissenschaftler je versucht? (Elias würde die letzte Frage vielleicht beantworten, indem er auf einen angeblichen falschen Respekt der Soziologen vor der Philosophie verantwortlich hinweist. Aber die Naturwissenschaften und die Soziologie (wie auch die Psychologie) haben doch tatsächlich nie gezögert, sich Fragestellungen zuzuwenden, die man mit ihren Methoden untersuchen kann. Und spätestens für die die Sociology of Scientific Knowledge ist es wohl sehr unplausibel, dass sie sich wegen eines besonderen Respekt vor der Philosophie zurückhalten würde.) Elias kritisiert die Philosophie Poppers dafür, dass sie die Wissenschaft nicht nur einfach beschreibt, wie sie faktisch ist, sondern wie sie seiner Meinung nach sein soll. Auch wenn die Kritik am konkreten Ansatz von Popper teilweise durchaus berechtigt ist, bringt die Auffassung von Elias ein Problem mit sich: Wenn man die Wissenschaft nur noch untersucht, wie sie faktisch ist, ohne auch danach zu fragen, was gute Wissenschaft zur guten Wissenschaft macht (und diese Frage ist eng verwandt mit der, wie Wissenschaft sein "sollte"), dann kann man gute und schlechte Wissenschaft nicht mehr voneinander unterscheiden. Ja, man kann eine valide Wissenschaft nicht einmal mehr von einer Pseudo-Wissenschaft oder purer Ideologie unterscheiden. Die Tatsache, dass eine bestimmte Wissenschaft akademisch institutionalisiert ist, löst dieses Problem nicht; denn es könnte auch sein, dass eine ideologische Pseudo-Wissenschaft offiziell anerkannt ist, während beispielsweise eine eigentlich valide Wissenschaft aus ideologischen Gründen unterdrückt sein könnte. Doch selbst im hypothetischen Fall, dass wir eine Garantie dafür hätten, dass alle institutionalisierten Wissenschaften "echte" Wissenschaften sind und alle anderen nicht, würde uns ja immer noch immer interessieren, was die echten von den falschen Wissenschaften unterscheidet. Auf solche Probleme bzw. Fragen gibt es innerhalb des Ansatzes "Wir beschreiben einfach nur, wie jene Wissenschaften, die etabliert sind, tatsächlich vorgehen", keine Antwort. Elias geht auf diesen Punkt nicht ein, und es ist nicht klar, ob er ihn überhaupt sieht. Die Sociology of Scientific Konwledge (SSK) hat zwar eine Antwort, aber diese ist radikal: Man weist die Fragestellung, ob etwas tatsächlich begründet, rational, wissenschaftlich ist, zurück und fragt einfach nur noch danach, ob und warum etwas innerhalb einer bestimmten Gruppe als wissenschaftlich, als begründet und als rational angesehen wird. Eine Frage wie die, ob eine bestimmte Disziplin zurecht als Wissenschaft anerkannt ist, wäre dann sinnlos; man könnte nur fragen, was die soziologisch untersuchbaren Ursachen dafür sind, dass eine bestimmte Gruppe die fragliche Disziplin als Wissenschaft anerkennt, eine andere Gruppe aber nicht. Und weil die SSK ihren Ansatz nicht als eine Ergänzung zur traditionellen philosophischen Erkenntnistheorie begreift, sondern diese ersetzen will (oder zumindest wollen das offenbar die meisten ihrer Vertreter), ist das ein radikaler Ansatz. (Wobei die Vertreter der SSK sich allerdings bewusst darüber zu sein scheinen, dass ihre Auffassung auf einer bestimmten Philosophie beruht.) Das wäre in der Tat die logische Folge, wenn man dem Ansatz von Elias folgt, nur noch beschreibt, wie die Wissenschaften faktisch arbeiten und jede "normative" Betrachtungsweise für illegitim erklärt. Erneut: Elias thematisiert diese Problematik nirgendwo. Noch ein Wort zu den Tatsachen: Natürlich nimmt die Philosophie (wo sie halbwegs etwas taugt) die relevanten Tatsachen zur Kenntnis - alles andere wäre ja auch absurd. Man muss aber unterscheiden zwischen "facta bruta" und Zusammenhängen, die wir verstehen können. "Facta bruta" wären Tatsachen, die wir nichtbegreifen können, sondern einfach zur Kenntnis nehmen müssen. Solche Tatsachen könnten auch ganz anders aussehen. Ein Experiment hat eben das faktisch Resultat A geliefert, aber es hätte, so scheint es uns, auch das Ergebnis B liefern können. Uns bleibt nur, zur Kenntnis zu nehmen, was das Experiment sagt, auch wenn wir nicht verstehen, warum es sagt, was es sagt. Solche "facta bruta" spielen in den empirischen Wissenschaften eine ganz entscheidende Rolle. Natürlich anerkennt die Philosophie solche "facta bruta". Die Philosophie der Physik nimmt beispielsweise selbstredend die Ergebnisse der Physik zur Kenntnis und legt sie zugrunde. Aber die Philosophie versucht nicht, experimentell "facta bruta" zu entdecken. Das ist schlichtweg nicht ihre Aufgabe. Vielmehr versucht sie, intelligible Zusammenhänge aufzuzeigen; also Zusammenhänge, die wir verstehen können. Die Tatsache beispielsweise, dass wir mit einem Mikroskop zwar erforschen können, was Zellen sind und wie sie sich zueinander verhalten, nicht aber, was eine "Theorie" ist und wie sie sich zur "Beobachtung" verhält, ist gewiss kein unverständliches factum brutum, sondern ein intelligibler Zusammenhang. Und wenn wir einmal die faktisch gegebenen Möglichkeiten und Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens und unseren faktisch gegebenen Zugang zur Natur voraussetzen: Ist es dann ein factum brutum, dass die Naturwissenschaften sowohl Empirie als auch Theorie voraussetzt, damit es zu einem Erkenntnisfortschritt kommen kann? Ist das ein Zusammenhang, der auch ganz anders aussehen könnte? Könnte es - die tatsächlich bestehende Conditio humana vorausgesetzt - auch so sein, dass wir allein mit Theorie oder allein mit Empirie erfolgreich Physik betreiben können? Dass dies nicht möglich ist: Ist das eine Tatsache, die wir durch ein Experiment herausfinden? Oder ist der Zusammenhang zwischen Theorie und Empirie etwas, was wir verstehen können, wenn wir uns - durchaus auch durch das genauere Betrachten der real existierenden Wissenschaft - klarmachen, was der Mensch leisten kann und was er nicht leisten kann, und was sein Verhältnis zur physikalischen Natur ist? Finden wir beim Verhältnis von Theorie und Empirie nicht einen Zusammenhang vor, der aus uns verständlichen Gründen so sein muss, wie er ist, und eben gerade nicht auch "völlig anders" sein könnte? Wenn es nur facta bruta gibt, die auch ganz anders sein könnten, und die man nur empirisch konstatieren (aber nicht verstehen) kann, warum verweist Elias dann nicht auf konkrete naturwissenschaftliche oder sozialwissenschaftliche Experimente, die jene seiner Ansichten, die gemeinhin als philosophisch gelten, empirisch belegen? Warum hat es vielmehr den Anschein, dass Elias zu seinen Überzeugungen gelangt, indem er die relevanten Zusammenhänge "betrachtet", über sie nachdenkt und dann zu Ergebnissen gelangt, die ihm als vernünftig und einsichtig erscheinen? bearbeitet 22. Juni von iskander Zitieren
iskander Geschrieben 22. Juni Melden Geschrieben 22. Juni vor 22 Stunden schrieb Merkur: Am 21.6.2025 um 21:34 schrieb iskander: Es ging mir um etwas anderes: Man kann Religion, Philosophie und Wissenschaft im Hinblick auf ihre jeweiligen Anspruch und ihre Erkenntnismöglichkeiten (soweit vorhanden) miteinander vergleichen und sie diesbezüglich zueinander in Beziehung setzen. Meiner Meinung nach kann man das nicht ohne weiteres. Die Reihenfolge Religion - Philosophie - Wissenschaft mag zwar chronologisch stimmen, läßt aber die unterschiedliche Herkunft dieser Unternehmungen unberücksichtigt. Religion war und ist ein Massenphänomen. Die Priesterschaft und die Theologie/das Lehramt entstanden aus der Masse der Gläubigen und haben sich im Laufe der Zeit verselbständigt. [...] Das alles bestreite ich doch gar nicht. Ich halte nur daran fest,m dass man Fragen wie die, ob Religion, Philosophie und Naturwissenschaften Erkenntnisse generieren können, und wenn ja welche, nicht durch eine empirisch-soziologische Analyse beantworten kann. Die einzige Möglichkeit besteht darin, dass man versucht, die jeweilige Eigenart der genannten Phänomene zu begreifen und ins Verhältnis zu dem zu setzen, was man als "Erkenntnis" bezeichnet. Zitieren
iskander Geschrieben 22. Juni Melden Geschrieben 22. Juni vor 21 Stunden schrieb Marcellinus: Nicht daß ich widersprechen möchte, aber darüber könnte man Bücher schreiben. Die Philosophie sitzt nämlich mit der Theologie im Elfenbeinturm Tür an Tür, und würde nicht überleben, wenn sie nicht von den überaus spendablen öffentlichen Händen großzügig alimentiert würde, ohne daß übrigens etwas Adäquates herauskommen würde. Die Wissenschaften dagegen haben, jedenfalls in ihren produktiven Teilen, den Elfenbeinturm namens Universität weitgehend verlassen, und verdienen ihr Brot im Verein mit Industrie und Wirtschaft. Dieses Schicksal teil die Philosophie allerdings mit vielen anderen Disziplinen in erheblichem Maße: Angefangen von den Geschichtswissenschaften über die Soziologie, die Archäologie, die Altertumswissenschaften, die Linguistik und Philologie (abseits der Ausbildung von Lehrern), der theoretischen Mathematik, der Kunst u.a.m. In manchen Fällen mag es ja durchaus sein, dass eine der genannten Disziplinen auch einen pragmatischen Nutzen hat, aber meistens doch wohl eher nicht. Bevor der Einwand kommt, dass die Philosophie aber nicht zu echten Erkenntnissen führen würde, hätte ich gerne erst noch folgende Frage geklärt (siehe meinen vorletzten Beitrag): Wie kann man jene beispielsweise jene Aussagen von Elias, die gemeinhin als philosophisch gelten - und die Du durchaus für sinnvoll und begründet zu halten scheinst - empirisch-soziologisch oder empirisch-naturwissenschaftlich begründen? Denn zumindest bei Elias finde ich keinen Hinweis darauf, dass er solche sozialwissenschaftlichen oder naturwissenschaftlichen Belege anbieten oder seinen Äußerungen zugrundelegen würde. (Mein Eindruck - aber ich lasse mich gerne eines Besseren belehren - ist vielmehr der, dass Elias genauso verfährt wie auch ein Philosoph, und dass er einfach deshalb meint, dass seine Aussagen zum Erkennen und zur Wissenschaft "soziologisch" seien, weil Erkennen und Wissenschaft soziale Phänomene sind. Was den letzteren Punkt angeht, so haben Erkennen und Wissenschaft natürlich tatsächlich soziale Vorbedingungen, Aspekte und Begleiterscheinungen; sie gehen aber eben nicht darin auf, soziale Vorbedingungen, Aspekte und Begleiterscheinungen zu haben. Wenn Elias beispielsweise etwas über das Verhältnis von Theorie und Empirie sagt, dann redet er nicht über soziale Verhältnisse, sondern über sachlogische Zusammenhänge.) Zitieren
Marcellinus Geschrieben 22. Juni Melden Geschrieben 22. Juni (bearbeitet) vor 41 Minuten schrieb iskander: Nimm die Frage, in welchem Verhältnis Theorie und Empirie in den Tatsachenwissenschaften zueinander stehen. Das ist eine Fragestellung, die man normalerweise als eine typisch erkenntnistheoretische bzw. wissenschaftstheoretische betrachten würde. Ist das so? Ich weiß nicht, was du unter "Theorie" und "Empirie" verstehst. In den theoretisch-empirischen Wissenschaften ist das eigentlich ganz einfach: Empirie sind Tatsachenbeobachtungen, die man in den einzelnen Fachgebieten macht, Theorie die gedanklichen Modelle, wie diese Beobachtung nachprüfbar zusammenhängen könnten. Das ganze ist ein wechselseitiger Prozeß von Tatsachenbeobachtung und Theoriebildung, in dem es keinen Anfang, und vermutlich auch kein Ende gibt. Was jeweils Tatsachenbeobachtungen sind, hängt von jeweiligen Fachgebiet ab, und wie die Modelle aussehen, auch. Den Status einer theoretisch-empirischen Wissenschaft erlangt ein Fachgebiet dann, wenn es über einen Fundus an erprobten Theorien verfügt, die auch nach größeren "wissenschaftlichen Revolutionen" noch prinzipiell gültig bleiben. Die Physik hat solche Revolutionen schon erlebt. Paradebeispiel ist der Wechsel von den Newton'schen zu den Einstein'schen Modellen, die die Modelle von Newton unter bestimmten Bedingungen bestätigte, aber weit über sie hinausging. Ähnliches gilt für die Biologie, die mit den Evolutionsmodellen von Darwin ihren Status einer theoretisch-empirischen Wissenschaft erreichten, einen vergleichbaren Status, den die Sozialwissenschaften bis heute nicht erlangt haben. Da schreibt jede Generation noch ihre Modelle neu. vor 41 Minuten schrieb iskander: Der klassische philosophische Ansatz bestünde darin, dass man sich ansieht, wie die Wissenschaften tatsächlich arbeiten, und dass man zugleich zu verstehen versucht, wieso die wissenschaftliche Arbeitsweise angesichts der menschlichen Erkenntnismöglichkeiten und Erkenntnisgrenzen tatsächlich dazu geeignet ist, einen Erkenntnisfortschritt zu ermöglichen. Ja, aber wen interessiert der "philosophische Ansatz"? Außer den Philosophen selbst natürlich! Für alle anderen ist nämlich klar, daß die Wissenschaften Erkenntnisfortschritt hervorbringen. Weite Teile unserer modernen Gesellschaften beruhen darauf. Wie realitätsfern muß man also sein, wenn man das für begründungsbedürftig hält? bearbeitet 22. Juni von Marcellinus Zitieren
Marcellinus Geschrieben 22. Juni Melden Geschrieben 22. Juni vor 14 Minuten schrieb iskander: vor 22 Stunden schrieb Marcellinus: Nicht daß ich widersprechen möchte, aber darüber könnte man Bücher schreiben. Die Philosophie sitzt nämlich mit der Theologie im Elfenbeinturm Tür an Tür, und würde nicht überleben, wenn sie nicht von den überaus spendablen öffentlichen Händen großzügig alimentiert würde, ohne daß übrigens etwas Adäquates herauskommen würde. Die Wissenschaften dagegen haben, jedenfalls in ihren produktiven Teilen, den Elfenbeinturm namens Universität weitgehend verlassen, und verdienen ihr Brot im Verein mit Industrie und Wirtschaft. Dieses Schicksal teil die Philosophie allerdings mit vielen anderen Disziplinen in erheblichem Maße: Angefangen von den Geschichtswissenschaften über die Soziologie, die Archäologie, die Altertumswissenschaften, die Linguistik und Philologie (abseits der Ausbildung von Lehrern), der theoretischen Mathematik, der Kunst u.a.m. In manchen Fällen mag es ja durchaus sein, dass eine der genannten Disziplinen auch einen pragmatischen Nutzen hat, aber meistens doch wohl eher nicht. Das ist so undifferenziert, daß es einen gruselt! Die Archäologie bringt materielle Hinterlassenschaften vergangener Jahrhunderte ans Licht, die Mathematik beansprucht überhaupt nicht, eine theoretisch-empirische Wissenschaft zu sein, sondern beschäftigt sich mit ihrem eigenen Regel- und Symbolsystem und die Kunst ist eben genau dies: Kunst. Nichts davon ist mit der Philosophie vergleichbar, es sein denn für einen ganz bestimmten Philosophen! 😄 P.S.: Ich wundere mich übrigens, daß die Moderation noch nicht eingeschritten ist, denn einen kirchlichen Bezug kann ich hier nicht erkennen. 😉 Zitieren
Merkur Geschrieben 22. Juni Melden Geschrieben 22. Juni vor 50 Minuten schrieb iskander: Das alles bestreite ich doch gar nicht. Ich halte nur daran fest,m dass man Fragen wie die, ob Religion, Philosophie und Naturwissenschaften Erkenntnisse generieren können, und wenn ja welche, nicht durch eine empirisch-soziologische Analyse beantworten kann. Die einzige Möglichkeit besteht darin, dass man versucht, die jeweilige Eigenart der genannten Phänomene zu begreifen und ins Verhältnis zu dem zu setzen, was man als "Erkenntnis" bezeichnet. Dagegen kann niemand etwas einzuwenden haben. Ich zumindest nicht. Fraglich ist für mich nur, welche allgemeingültigen (oder zumindest auch außerhalb der Religion gültigen) Erkenntnisse man sich von der Religion erhoffen könnte. Zitieren
Marcellinus Geschrieben 22. Juni Melden Geschrieben 22. Juni vor 18 Minuten schrieb Merkur: vor einer Stunde schrieb iskander: Das alles bestreite ich doch gar nicht. Ich halte nur daran fest,m dass man Fragen wie die, ob Religion, Philosophie und Naturwissenschaften Erkenntnisse generieren können, und wenn ja welche, nicht durch eine empirisch-soziologische Analyse beantworten kann. Die einzige Möglichkeit besteht darin, dass man versucht, die jeweilige Eigenart der genannten Phänomene zu begreifen und ins Verhältnis zu dem zu setzen, was man als "Erkenntnis" bezeichnet. Dagegen kann niemand etwas einzuwenden haben. Ich zumindest nicht. Fraglich ist für mich nur, welche allgemeingültigen (oder zumindest auch außerhalb der Religion gültigen) Erkenntnisse man sich von der Religion erhoffen könnte. Und das Gleiche gilt für die Philosophie. Auch sie mag Erkenntnisse hervorbringen, aber keine, die außerhalb der Philosophie Bedeutung haben. Aber während die Religionen, zumindest in unseren Breiten mittlerweile zugeben, daß ihre Erkenntnisse nur für die Verbindlichkeit besitzen, die ihren Glauben teilen (auch wenn sie allgemeine Gültigkeit wohl weiterhin in Anspruch nehmen), so gehen Philosophen davon aus, daß ihre "Wahrheiten" allgemeine Gültigkeit und Verbindlichkeit besitzen, auch für die, die ihren Glauben an die Philosophie nicht teilen. Zitieren
iskander Geschrieben 22. Juni Melden Geschrieben 22. Juni (bearbeitet) vor einer Stunde schrieb Marcellinus: Ist das so? Ich weiß nicht, was du unter "Theorie" und "Empirie" verstehst. In den theoretisch-empirischen Wissenschaften ist das eigentlich ganz einfach: Empirie sind Tatsachenbeobachtungen, die man in den einzelnen Fachgebieten macht, Theorie die gedanklichen Modellen, wie diese Beobachtung nachprüfbar zusammenhängen könnten. Das ganze ist eine wechselseitiger Prozeß von Tatsachenbeobachtung und Theoriebildung, in dem es keine Anfang, und vermutlich auch kein Ende gibt. Was jeweils Tatsachenbeobachtungen sind, hängt von jeweiligen Fachgebiet ab, und wie die Modelle aussehen, auch. Denke doch beispielsweise an das Zitat von Comte dazu, wie Empirie und Theorie aufeinander angewiesen sind. Man mag sagen, dass das eine triviale Erkenntnis ist, okay. Wobei das so trivial wohl auch nicht ist: Der "Mann von der Straße" wird das auf die Schnelle wohl kaum reproduzieren können. Jedenfalls ist diese Erkenntnis doch nicht das Ergebnis einer sozialwissenschaftlichen oder einer naturwissenschaftlicher Untersuchung, mit der sich die Aussagen von Comte beweisen ließen. Dass Comtes Ausführungen grundsätzlich berechtigt sind, versteht man doch nicht, indem man eine sozialwissenschaftliche Befragung von Studienteilnehmern durchführt, und auch nicht, indem man Comtes Ausführungen mithilfe des Lichtmikroskop zu klären versucht. Man versteht die grundsätzliche Richtigkeit seiner Gedanken dadurch, dass man sich die relevanten Zusammenhänge vor Augen führt und durchdenkt. Das ist aber eben (zumindest dem üblichen Sprachgebrauch gemäß) nichts anderes als Philosophie. Wenn Du keine sozialwissenschaftlich-empirische oder naturwissenschaftlich-empirische Untersuchung nennen kannst, die belegt, dass Comtes Äußerungen berechtigt sind, dann scheint es in der Sache keine Differenz zu geben, und Du meidest dann einfach das Wort "Philosophie". Wenn nein: Wo genau und wo konkret siehst Du an dieser Stelle den grundsätzlichen Unterschied zwischen dem Vorgehen von Comte und einem philosophischen Vorgehen? Zudem zeigt sich an Deiner Darlegung, dass die Sache vielleicht doch nicht so trivial ist. Denn ohne einen Anfang in der Begründung hat man einen unendlichen und fatalen Regress. Das gilt schon für den ganz einfachen (und hier vereinfachten) Fall der Widerlegung: Ich will die Theorie T widerlege, und dazu vergleiche ich sie mit der Beobachtung B. Und wenn Theorie T und Beobachtung B einander widersprechen, dann gilt die Theorie T als widerlegt. Woher weiß ich aber, dass meine Beobachtung B tatsächlich der Theorie T widerspricht, und dass ich die Beobachtung nicht nur so interpretiere, dass sie ihr widerspricht? (Das ist zumindest in etwas anspruchsvolleren Fällen ja eine Möglichkeit.) Nun, ich weiß das deshalb, weil eine andere Theorie mir das sagt - nämlich jene Theorie, in deren Licht ich meine Beobachtung B interpretiere. Woher weiß ich nun aber wiederum, dass jene Theorie richtig ist? Nun, offensichtlich auf Grundlage anderer Beobachtungen und Theorien. Wenn das aber immer so weiter geht, dann hängt eben alles in der Luft. Dann weiß ich überhaupt nicht, ob meine Beobachtung B und die Theorie T wirklich miteinander im Widerspruch stehen, oder ob das nur so zu sein scheint, weil ich meine Beobachtung B im Licht womöglich falscher Theorien eben so interpretiere. Dann weiß ich aber natürlich auch nicht, ob die Widerlegung von Theorie T gültig ist, oder ob nur eine (andere und womöglich falsche) Theorie mich zu diesem Schluss verführt. Dass man auch für einen widerlegenden Beweis etwas wissen muss, zumindest nämlich, dass das, was man in ihm voraussetzt, auch tatsächlich der Fall ist - das ist eine einfache, aber eben doch wichtige und scheinbar leicht zu übersehende Tatsache. Diese Tatsache erkennen wir aber nicht, indem wir eine soziologische Studie oder ein chemisches Experiment durchführen, sondern indem wir uns klarmachen, über was wir hier sprechen. Wenn Du das anders siehst und meinst, dass wir eine Theorie durch unsere Beobachtung widerlegen können, auch wenn wir gar nicht wissen, ob wir unsere Beobachtung überhaupt korrekt interpretieren; oder wenn Du alternativ meinst, dass wir wissen können, dass wir unsere Beobachtung korrekt interpretieren, obwohl die Grundlage für unsere Interpretation ein unendlicher Regress von Theorien und Beobachtungen ist, ohne dass wir je wissen, ob etwas von alledem korrekt ist: Dann erkläre mir bitte, wie das funktionieren kann. vor einer Stunde schrieb Marcellinus: Den Status einer theoretisch-empirischen Wissenschaft erlangt ein Fachgebiet dann, wenn es über einen Fundus an erprobten Theorien verfügt, die auch nach größeren "wissenschaftlichen Revolutionen" noch prinzipiell gültig bleiben. Die Physik hat solche Revolutionen schon erlebt. Paradebeispiel ist der Wechsel von den Newton'schen zu den Einstein'schen Modellen, die die Modelle von Newton unter bestimmten Bedingungen bestätigte. Ähnliches gilt für die Biologie, die mit den Evolutionsmodellen von Darwin ihren Status einer theoretisch-empirischen Wissenschaft erreichten, eine vergleichbaren Status, den die Sozialwissenschaften bis heute nicht erlangt haben. Da schreibt jede Generation noch ihre Modelle neu. Ich interpretiere Deine Aussage "Den Status einer theoretisch-empirischen Wissenschaft erlangt ein Fachgebiet dann, wenn ..." einmal so, dass Du meinst, dass das entsprechende Fachgebiet diesen Status in besagtem Fall zurecht erhält und also zurecht als eine Disziplin gilt, die Erkenntnisse generiert - denn ansonsten würde Deine Aussage ja nur etwas über arbiträre soziale Konventionen aussagen. Dazu ließen sich natürlich zahlreiche Fragen stellen, aber ich begnüge mich mit der folgenden: Beruht Deine Aussage auf einer konkreten soziologischen bzw. naturwissenschaftlichen Studie, die ihre Richtigkeit beweisen würde? Oder gehst Du hier nicht eher so vor, wie auch Philosophen das tun: Du schaust Dir an, wie Wissenschaften funktionieren, was es da alles gibt, welche Rolle Theorien und ihre "Erprobung" spielen, um dann zu einer Schlussfolgerung zu gelangen, was eine leistungsfähige Wissenschaft ausmacht. Wenn ja, dann stellt sich erneut diese Frage: Wo ist hier der prinzipielle Unterschied zwischen Deiner und einer philosophischen Herangehensweise? vor einer Stunde schrieb Marcellinus: Ja, aber wen interessiert der "philosophische Ansatz"? Zumindest dem Anschein nach Dich! Denn Du tätigst doch - wie Elias - zahlreiche Aussagen zu allen möglichen Fragestellungen, die man normalerweise der Philosophie zuordnen würde - von der Erkenntnistheorie über die Wissenschaftstheorie, von der Philosophie der Logik über die Ontologie und die Philosophie des Geistes bis zur Metaethik. Und allem Anschein nach verfahrt Ihr beide dabei genau so, wie auch Philosophen verfahren: Ihr "betrachtet" die Sache in ihren verschiedenen Aspekten, wobei ihr natürlich auch das relevante Faktenwissen zur Kenntnis nehmt; und dann kommt Ihr zu einer bestimmten Einschätzung. Wenn Du der Meinung bist, dass das falsch ist, und dass Ihr tatsächlich empirisch-sozialwissenschaftlich oder empirisch-naturwissenschaftlich vorgeht, dann würde mich interessieren, wie das konkret aussieht. Bei Elias finde ich da jedenfalls nichts. Er verweist im relevanten Zusammenhang auf keine einzige sozialwissenschaftliche oder naturwissenschaftliche Studie. Zitat Außer den Philosophen selbst natürlich! Für alle anderen ist nämlich klar, daß die Wissenschaften Erkenntnisfortschritt hervorbringen. Weite Teile unserer modernen Gesellschaften beruhen darauf. Wie realitätsfern muß man also sein, wenn man das für begründungsbedürftig hält? Wenn man was für begründungsbedürftig hält? Die Überzeugung, dass moderne Wissenschaft viele nützliche Resultate hervorbringen? Welcher Philosoph bezweifelt das denn? bearbeitet 22. Juni von iskander Zitieren
iskander Geschrieben 22. Juni Melden Geschrieben 22. Juni (bearbeitet) vor 58 Minuten schrieb Marcellinus: Das ist so undifferenziert, daß es einen gruselt! Die Archäologie bringt materielle Hinterlassenschaften vergangener Jahrhunderte ans Licht, die Mathematik beansprucht überhaupt nicht, eine theoretisch-empirische Wissenschaft zu sein, sondern beschäftigt sich mit ihrem eigenen Regel- und Symbolsystem und die Kunst ist eben genau dies: Kunst. Nichts davon ist mit der Philosophie vergleichbar, es sein denn für einen ganz bestimmten Philosophen! 😄 Ich hatte Deinen Beitrag im Lichte der folgenden Aussage, die in ihm enthalten ist, verstanden: "Die Wissenschaften dagegen haben, jedenfalls in ihren produktiven Teilen, den Elfenbeinturm namens Universität weitgehend verlassen, und verdienen ihr Brot im Verein mit Industrie und Wirtschaft." bearbeitet 22. Juni von iskander Zitieren
iskander Geschrieben 22. Juni Melden Geschrieben 22. Juni (bearbeitet) vor 25 Minuten schrieb Marcellinus: Und das Gleiche gilt für die Philosophie. Auch sie mag Erkenntnisse hervorbringen, aber keine, die außerhalb der Philosophie Bedeutung haben. Aber während die Religionen, zumindest in unseren Breiten mittlerweile zugeben, daß ihre Erkenntnisse nur für die Verbindlichkeit besitzen, die ihren Glauben teilen (auch wenn sie allgemeine Gültigkeit wohl weiterhin in Anspruch nehmen), so gehen Philosophen davon aus, daß ihre "Wahrheiten" allgemeine Gültigkeit und Verbindlichkeit besitzen, auch für die, die ihren Glauben an die Philosophie nicht teilen. Dann möchte ich Dich erneut bitten, zu erklären, wieso Deine zahlreichen Einlassungen zu Fragen, die man gewöhnlich der Erkenntnistheorie, der Wissenschaftstheorie, der Philosophie der Logik, der Ontologie, der Philosophie des Geistes und der Metaethik zuordnen würde, nicht als "Philosophie" zu betrachten sind, sondern - so hast Du es ja erklärt - als Wissenssoziologie. Und da ja für Dich nur das eine Erkenntnis sein kann, was sich durch Beobachtung prüfen lässt, muss man ja offenbar sagen: Deine Erkenntnisse beruhen auf der empirischen Sozialforschung. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, wie das konkret funktionieren soll, bin aber gerne bereit, mich eines Besseren belehren zu lassen. Nun hätte ich dann eben konkrete Beispiele dafür, wie Deine entsprechenden Äußerungen von den Sozialwissenschaften empirisch geprüft und vorläufig bestätigt wurden. Nochmals: Bei Elias finde ich nichts dergleichen. Er sagt zwar vieles, was man normalerweise der Philosophie zuordnen würde, aber ich finde keinen einzigen Hinweis darauf, dass er auf eine andere Weise zu seinen Schlussfolgerungen gelangen würde als Philosophen. (Die Moderation würde ich freundlich bitten, diesen Diskussionsfaden bei Bedarf in einen anderen Thread zu verschieben und sie nicht einfach zu löschen.) bearbeitet 22. Juni von iskander Zitieren
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