Merkur Geschrieben vor 8 Stunden Melden Geschrieben vor 8 Stunden vor 23 Stunden schrieb Flo77: Ich denke dieser Wandel hat bereits während der Aufklärung eingesetzt und mit der Entwicklung der modernen Psychologie/Psychiatrie nochmal Fahrt aufgenommen. Die Verschiebung der Sichtweise ist denke ich in drei Aspekte besonders sichtbar: ... Diese drei Aspekte lassen das christliche Menschenbild in sehr unvorteilhaftem Licht erscheinen. Gibt es denn keine Argumente, die jemanden dazu veranlassen könnten, sich freiwillig für dieses Menschenbild und damit auch für die Morallehre zu entscheiden? Zitieren
Flo77 Geschrieben vor 7 Stunden Melden Geschrieben vor 7 Stunden vor 7 Minuten schrieb Merkur: Diese drei Aspekte lassen das christliche Menschenbild in sehr unvorteilhaftem Licht erscheinen. Gibt es denn keine Argumente, die jemanden dazu veranlassen könnten, sich freiwillig für dieses Menschenbild und damit auch für die Morallehre zu entscheiden? Das ist dann wohl die Pilatus-Frage. Was ist Wahrheit? Bzw. wem traut man. Zitieren
iskander Geschrieben vor 7 Stunden Melden Geschrieben vor 7 Stunden (bearbeitet) Am 13.5.2025 um 11:59 schrieb Merkur: Nachdem du die Unsinnigkeit einer übersteigerten Einhaltung dieser Moral jetzt herausgearbeitet hast, würde mich interessieren, warum das Lehramt das trotzdem so vertritt. Ich halte es für unwahrschlich, dass ihm die Gegenargumente einfach nur nicht bekannt sind. Was sagen deine Quellen dazu? Gute Frage. Ich habe nun keine "privilegierten" Quellen, aber es scheint offenkundig dass es wohl einige Faktoren gibt. Ich habe dazu auch schon etwas gelesen, kann es aber jetzt nicht ohne neue Recherche auf die Schnelle vollständig reproduzieren. Ich schreibe einfach mal einige Aspekte auf, die mir als wichtig erscheinen. - Das Christentum besaß keine entwickelte Ehelehre oder Sexuallehre und übernahm viel von einflussreichen (spät)antiken geistigen Strömungen wie der späten Stoa oder der Gnosis. Diese Strömungen waren aus einer inneren Logik der Weltverneinung heraus extrem sexualfeindlich. Es wurde so in einer recht frühen und sensiblen Phase des Christentums eine sexualfeindliche Tradition geschaffen und tief verwurzelt. - Die große Schwierigkeit, sich von der eigenen Tradition zu lösen oder diese auch nur zu hinterfragen. Ich hatte dazu ja neulich einen Thread aufgemacht. Es ist der eigene überhöhte Anspruch, das eigene Idealbild, das man nicht gefährdet sehen will. So spricht offenbar viel dafür, dass beispielsweise der wohl entscheidende Grund für Humane vitae war, dass bei bei einer Änderung der Lehre zum Schluss hätte gelangen müssen, dass die kath. Kirche sich in einer schwerwiegenden und für das irdische und ewige Wohl des Menschen wichtigen Frage geirrt hatte. Sie hätte auch zugeben müssen, dass die Anglikaner früher zum richtigen Schluss gekommen waren und also der H. Geist sie besser geführt hat als die kath. Kirche. (Zudem spielte offenbar auch der spätere JPII eine gewichtige Rolle - siehe unten.) - Es mag nach Küchenpsychologie klingen, aber es ist wohl doch kein reiner Zufall, dass die kath. Kirche mit ihrem Zölibat von allen größeren Religionsgemeinschaften der Welt die strengste Sexualmoral hat. Wer an die kath. Moral glaubt und sie ernst nimmt und lebenslang zölibatär lebt, kann Sexualität immer nur als etwas Negatives erlebt haben, als (potentielle) Sünde und ähnliches. Und wenn der Betroffene die Moral in der Praxis nicht allzu ernst nimmt, sich ihr aber dennoch stark verpflichtet fühlt, kann es zu einer inneren Spaltung kommen. Alles keine guten Voraussetzungen für einen unbefangenen Umgang mit diesem Phänomen. Außerdem fehlt dem, der immer zölibatär gelebt hat, dann vielleicht doch der konkrete Erfahrungshorizont für manche Fragen. - Dieser Mangel an Erfahrung kann vielleicht kompensiert werden, indem man Menschen mit Erfahrungen zukommt. Innerhalb der päpstlichen Kommission zur Geburtenregelung im Vorfeld von Humane vitae machten die Zeugnisse und Berichte der verheirateten Teilnehmen dann wohl auch einen erheblichen Eindruck, auch bei den Geistlichen. Aber meistens hört die Kirche nicht zu, sondern sie belehrt. Sie will nicht wissen, was die Leute wirklich erleben, sondern sie leitet aus der Gewissheit, mit ihrer Lehre recht zu haben, ab, was die Leute zu erleben haben. Im Sinne von: 'Unsere Gebote kommen von Gott, Gottes Gebote tun dem Menschen gut - also müssen unsere Gebote ein wahrer Segen für den Menschen sein.' Wenn man beispielsweise Humane vitae liest, das in den rosigsten Farben die wunderbaren Effekte der Zeitwahl ausmalt, und das dann mit den realen Erfahrungen und Zeugnissen gut katholischer und engagierter Eheleute vergleicht (z.B. McClory, Turning Point), dann ist die Diskrepanz enorm. Da ist wieder diese Selbstüberschätzung: 'Wir müssen nichts von anderen lernen, andere müssen alles von und lernen, selbst was sie erleben oder zu erleben haben, denn wir haben den Hl. Geist.' - Die Übermacht des Papstes: Es gibt gute Argumente etwa dafür, dass die meisten Konzilsväter auf dem II. Vatikanum für eine Veränderung der Lehre zur Verhütung gewesen wären (McClory, Turning Point). Paul VI. entzog dem Konzil jedoch jedes Recht, sich mit dieser Frage zu befassen und würgte Diskussionen, die trotz seines Verbots anfingen, rasch ab. Auch bei JPII war es wohl so, dass das Thema der Sexualmoral ihm zumindest wichtiger war als einem Großteil der Bischöfe. - Psychologische Abwehrmechanismen und ähnliches: Wenn man dem Soziologen F. Martel, der umfassend im Vatikan recherchiert hat, Glauben schenken darf, verharren vor allem vor allem hochrangige schwule Kardinäle und Bischöfe, darunter viele homosexuell praktizierende, auf einer möglichst strengen Sexualmoral (auch und gerade zum Thema Homosexualität). - Johannes Paul II. machte die Sexuallehre zu einem ganz entscheidenden Thema. Offenbar war sie ihm äußerst wichtig."Es gehe [bei der ausnahmslosen Verwerflichkeit der Verhütung] um einen zentralen Punkt der Lehre über Gott und den Menschen. Mt ihr würde die Heiligkeit Gottes selbst abgelehnt. Wer sich dagegen auf das Gewissen berufe, lehne die kirchliche Lehre über Gewissen und Lehramt ab." (Quelle: N. Lüdecke) (Wer übrigens meint, dass die Sexualmoral für die kath. Kirche eher so etwas für eine Marginalie sei, sollte sich vielleicht nochmals mit dem "Heiligen Johannes Paul II." befassen.) Wieso eigentlich hat JPII Fragen, die aus der Sicht eines Außenstehenden als moralisch neutral darstellen, derart überhöht? Wieso hat er eine Handlung, die doch immerhin niemandem auch nur geringfügig schaden muss, derart verdammt? Wieso behandelt er dieses Thema als stünde es innerhalb der "Hierarchie der Wahrheiten" ganz nahe an der Sitze? Eine umfassende Antwort habe ich nicht, aber einen Hinweis findet man vielleicht hier: "During the mid to late 1950s, “his [Wojtyła's] philosophy on marriage and sexuality was significantly influenced by his closest advisor, Dr. Wanda Poltawska, a psychiatrist..." [...] Dr. Poltawska’s paper also frequently referred to neurosis in women caused by the use of contraceptives … which Wojtyla accepted as valid." 13 These beliefs were also reflected in Love and Responsibility [einem Buch von Wojtyla].14 Poltawska also theorized that in countries where the contraceptive attitude prevailed, abortion would be the logical outcome of contraceptive failure.15 [...] Wojtyla – John Paul II frequently used these same words. Somehow, those who practice periodic continence and have the intention of ‘no more children for good reasons’ would accept a child born by accident, but contraceptive couples that have the same intention would be more prone to abortion. [...] Most importantly, “There is little doubt that most of the ideas on sex, birth control and abortion, expressed by Wojtyla in his books and later in his papal sermons, were originally developed in his discussions with Dr. Poltawska.” [...]" "Under the influence of his advisors (e.g., Dr. Poltawska) Karol Wojtyla believed that if contraception were allowed, this would lead spouses to using each other merely as objects for sexual pleasure, to forms of ‘sexual slavery’, to neurosis on the part of the woman, and to the tendency for couples to choose abortion if contraception failed. [...]" "As it turned out, “Dr. Poltawska’s medical and psychiatric theories forwarded to the Vatican by Wojtyla persuaded Paul VI to reject the advice of his Western experts who favored the limited use of contraception by married couples.” 16 [...]" "... But Jonathan Kwitny, noted in his biography of John Paul II, that he could not find any scientifically accepted proofs of Dr. Poltawska’s claims or any references to her research in serious scientific journals.” (Quelle: Barberi and Selling) Aus einer konservativ-katholischen Sicht mag es sich so darstellen, dass der Hl. Geist hier auf krummen Zeilen gerade geschrieben hat, um die Kirche in der Wahrheit zu halten. Aus einer distanzierteren Sicht aber stellt es sich eher so dar, dass die Kirche aufgrund einer Verkettung unglücklicher Umstände sowie eigener struktureller Schwächen eine Entscheidung getroffen hat, mit der sie viel Unbill über sich selbst, vor allem aber auch über viele Menschen gebracht hat. bearbeitet vor 7 Stunden von iskander 2 Zitieren
Frey Geschrieben vor 5 Stunden Melden Geschrieben vor 5 Stunden Die Ausführungen sind sehr umfangreich, und ich kann den Standpunkt von @iskander natürlich gut nachvollziehen. Jedoch habe ich den Eindruck, dass meine Intention nicht auf ebenso viel Verständnis stösst. Es ist ja unbestritten, dass die katholische Sexualmoral nicht mehr der gesellschaftlichen Mehrheitsmeinung entspricht. Es ist auch nicht das Ziel, diese als richtig/falsch oder nicht erstrebenswert zu betrachten. Das Spannungsverhältnis zwischen Moderne, Individualität und katholischer Sicht wurde hinreichend herausgearbeitet. Auch die Konsens- und Konfliktlinien sind klar. Aber: Die Kirche ist nicht mehr Trägerin des Mainstreams, sondern Gegenentwurf zu einer Gesellschaft, die erhebliche Kritikpunkte in sich birgt. Sie ist Gegenentwurf und soll es auch bleiben, so dass der Skandal des Christeins - wie in ihren Anfängen - sichtbar und spürbar wird. Die Kirche versteht sich als Bewahrerin der göttlichen Ordnung und darf sie nicht eigenmächtig auflösen, auch nicht unter gesellschaftlichem Druck. Sie bietet mit ihrer Haltung eine bewusste Alternative zum Zeitgeist und setzt ein Zeichen gegen eine utilitaristische Sicht auf Sexualität, die sie als beliebig und funktional betrachtet. Gerade als Minderheitenposition hat die Lehre einen Wert: Sie erinnert an die Möglichkeit, Sexualität als ganzheitlichen, verantwortungsvollen und schöpfungsbezogenen Akt zu leben. Wenn die Kirche ihre Lehre aus pragmatischen oder gesellschaftlichen Gründen anpassen würde, würde sie dem ethischen Relativismus Vorschub leisten und ihre Orientierungskraft als moralische Instanz verlieren. Selbst als Alternative und Kontrast zur Mehrheitsmeinung dient die katholische Lehre zur künstlichen Verhütung als Zeugnis für den Schöpfungsgedanken, die Unverfügbarkeit des Lebens und die Würde der menschlichen Sexualität. Ein Festhalten daran sichert Kontinuität, Glaubwürdigkeit und die prophetische Aufgabe der Kirche in der Welt. Es ist ein Plädoyer für das andere Leben: Armut, Gehorsam, Ehelosigkeit sind die eigentlichen evangelischen Räte, für das Christus wirbt. Insofern ist die Sexualmoral schon eine Erleichterung, denn wer schafft es schon, arm und gehorsam zu leben? Es ist ein Angebot, welches nicht für jeden geschaffen ist, aber Christsein ist auch kein Hobby. Zitieren
Merkur Geschrieben vor 5 Stunden Melden Geschrieben vor 5 Stunden vor 6 Minuten schrieb Frey: Aber: Die Kirche ist nicht mehr Trägerin des Mainstreams, sondern Gegenentwurf zu einer Gesellschaft, die erhebliche Kritikpunkte in sich birgt. Sie ist Gegenentwurf und soll es auch bleiben, so dass der Skandal des Christeins - wie in ihren Anfängen - sichtbar und spürbar wird. Wie lautet bei diesem Punkt genau das Argument? Etwa: Das, was wir lehren muss nicht sinnvoll sein, es muss nur anders sein? Im Hinblick auf die innere Logik von Religionen halte ich das nicht für völlig abwegig. 1 Zitieren
Frey Geschrieben vor 5 Stunden Melden Geschrieben vor 5 Stunden vor 12 Minuten schrieb Merkur: Wie lautet bei diesem Punkt genau das Argument? Etwa: Das, was wir lehren muss nicht sinnvoll sein, es muss nur anders sein? Im Hinblick auf die innere Logik von Religionen halte ich das nicht für völlig abwegig. Das Argument lautet nicht „es muss nur anders sein“, sondern: Die Kirche soll dort anders sein, wo sie aus ihrer Sicht der Gesellschaft etwas voraus hat oder sie kritisch korrigieren kann – und das gerade macht ihre gesellschaftliche Relevanz aus. Zitieren
Merkur Geschrieben vor 4 Stunden Melden Geschrieben vor 4 Stunden vor 36 Minuten schrieb Frey: Das Argument lautet nicht „es muss nur anders sein“, sondern: Die Kirche soll dort anders sein, wo sie aus ihrer Sicht der Gesellschaft etwas voraus hat oder sie kritisch korrigieren kann – und das gerade macht ihre gesellschaftliche Relevanz aus. Also der Fokus soll auf Kontinuität, Glaubwürdigkeit und prophetischer Aufgabe liegen, nicht unbedingt auf dem privaten Wohlergehen? Wenn das so ist, wird die Sache für mich zumindest etwas plausibler. Zitieren
Werner001 Geschrieben vor 1 Stunde Melden Geschrieben vor 1 Stunde vor 3 Stunden schrieb Frey: Die Kirche versteht sich als Bewahrerin der göttlichen Ordnung und darf sie nicht eigenmächtig auflösen, auch nicht unter gesellschaftlichem Druck. Warum darf die Kirche etwas, das sie vollkommen eigenmächtig aufgestellt hat, nicht auch wieder auflösen? Es lässt sich doch durch jedermann ganz einfach nachvollziehen, dass diese behauptete „göttliche Ordnung“ von Menschen festgelegt wurde. Von Menschen, die meinten oder behaupteten, im Sinne Gottes zu agieren, aber in jedem Fall doch durch Menschen. Und warum soll es nicht möglich sein, dass andere Menschen in anderen Zeitaltern zu anderen Schlüssen kommen, hinsichtlich dessen, was Gott vielleicht wollen könnte, aber nicht äußert. Im Bezug auf andere Themen ging das doch auch, kein Papst oder Bischof würde heute z. B. noch behaupten, es sei Gottes Wille, in den heiligen Krieg zu ziehen oder Ketzer zu verbrennen. Warum soll das im Bezug auf die Sexualmoral nicht möglich sein? Werner Zitieren
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