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Die Theologie des Leibes von Johannes Paul ist gescheitert


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Geschrieben (bearbeitet)

@Flo77

 

In aller Vorsicht: Vieles an Restriktionen scheint auf die "Bürgermoral" zurückzugehen, mit der man sich gegen den Adel abgrenzen wollte. Grundsätzlich scheint es aber so, dass beispielsweise auf dem Lande oft eine relativ freizügige Moral zumindest im Hinblick auf vorehelichen Sex herrschte. Ich zitiere Schockenhoff (Die Kunst zu lieben):

 

"Der Historiker Walter Letsch gelangte bei seiner Auswertung der genannten Quellen in den Pfarreien Wiela und Wildberg im Züricher Oberland zu dem Ergebnis, dass in der ländlichen Schweiz des 18. und 19. Jahrhunderts „die voreheliche Sexualität – zumindest zwischen Verlobung und kirchlicher Einsegnung – weit verbreitet war“.9 Aus der Sicht der Dorfgemeinschaft hatten voreheliche Beziehungen nach der Verlobung nichts Anrüchiges an sich; sie wurden erst im Zeitalter der Konfessionalisierung als moralisches Problem empfunden, da sich nach Reformation und Gegenreformation die entsprechenden kirchlichen und obrigkeitlichen Vorschriften allmählich verschärften.10 [...] 

Doch hatte die Obrigkeit, die voreheliche Geburten nicht nur aus moralischen, sondern auch aus wirtschaftlichen Gründen verfolgte, um die Belastung durch Unterstützungszahlungen möglichst niedrig zu halten, gegenüber dem ländlichen Brauchtum einen schweren Stand, da die Dorfgemeinschaft die Praxis vorehelicher Sexualität stillschweigend akzeptierte.12 Dabei gab es eine Vielfalt traditioneller Formen der Werbung und Eheanbahnung, die von der Verlobung nicht immer
klar zu trennen waren. Das „Fensterln“, das „Lichtstubeten“ oder das „Gadensteigen“ sollte jungen Leuten die Möglichkeit geben, sich innerhalb bestimmter
Formen und Grenzen kennenzulernen. Nächtliche Besuche junger Burschen bei Mädchen konnten auch im Umfeld von Kirchweihen, Erntefesten oder Tanzanlässen
stattfinden. Obwohl sie der Obrigkeit ein Dorn im Auge waren, weil sie in ihren Augen Gefahren der Unsittlichkeit in sich bargen, wurden diese Aktivitäten von der bäuerlichen Dorfgemeinschaft, der sie nicht verborgen bleiben konnten, im Allgemeinen gedeckt."

 

Ähnliche Schilderungen hatte ich auch schon anderswo gelesen. Die meisten Leute wollen spontan und von sich aus weder unbedingt sich selbst kasteien noch das Leben anderer Menschen streng regulieren, wenn sie dafür keinen besonderen Grund sehen. Auch die "bürgerliche Moral" war wohl vor allem auf die Mittelschicht begrenzt, während weder Ober- noch Unterschicht sich viel um sie gekümmert haben. Und selbst bei der bürgerlichen Mittelschicht lebte man wohl oft anders, als dies von der offiziellen Moral propagiert wurde. Ich erinnere mich an eine Reportage über die Zeit kurz vor dem 1. Weltkrieg, in welcher es hieß, dass ungefähr ein Drittel der wohlhabenden Männer ohne Heirat mit einer Frau zusammenlebten (wenn ich es richtig zusammen kriege).
 

Zitat

Irland war übrigens eher dran an Deutschland.

 

Unser § 175 wurde erst 1994 abgeschafft.

 

Deutschland hat bei solchen Themen eine ziemlich erbärmliche Figur abgegeben. In Irland hat man aber, wenn ich es richtig verstehe, bis 1993 jede homosexuelle Aktivität unter Strafe gestellt und musste erst vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu einer Gesetzesreform gezwungen werden.  

bearbeitet von iskander
Geschrieben
vor 8 Minuten schrieb iskander:
Zitat

Unser § 175 wurde erst 1994 abgeschafft.

 

Deutschland hat bei solchen Themen eine ziemlich erbärmliche Figur abgegeben.

 

Ja, und nein. Ich habe die Zeit von den 70ern bis heute bewußt erlebt. Was die Gesetze betraf, war die Bundesrepublik wirklich lange Zeit hinterher. Die Praxis dagegen war in aller Regel viel liberaler, solange nicht öffentliche Aufmerksamkeit dazu kam. Und die entstand immer dann, wenn versucht wurde, die längst erreichte praktische Liberalität auch in Gesetze zu gießen. Dann geriet es regelmäßig in die Mühlen der Parteipolitik und nach hinten los. Deshalb dauerte es so lange, bis $175 abgeschafft wurde, und bei §218 haben wir heute noch nicht als juristischer Zustand, was Ende der 60er gelebte Praxis war.

Cosifantutti
Geschrieben
vor 12 Stunden schrieb Chrysologus:

Wenn dem so wäre (JPII behauptete dies formell, um dann inhaltlich drunter weg zu tauchen), dann wäre der Eucharistieempfang solange zu verweigern, bis die ehebrecherische Zweitehen beendet ist. Das ware auch lange Praxis der Kirche, bis JPII in Familiaris consortium die Torpfosten verschob, Problem war auf einmal nicht mehr die Zweiehe, sondern der in ihr stattfindende Geschlechstverkehr (darauf war er immer sehr fokussiert), weswegen eine sexfreie Zweitehe tolerabel wurde.

 

Solange also das Paar behauptete, keinen Sex zu haben, war alles gut. Ich würde das bigott nennen.

Ja, entscheidend ist die Forderung nach vollkommener Enthaltsamkeit in der Zweitehe, das ist das Kriterium, das den Zugang zur Kommunion ermöglicht und erlaubt. Offensichtlich sind das entscheidende, praktische Konsequenzen aus seiner „Theologie des Leibes“. Genau so hat Josef Ratzinger auch als Chef der Glaubenskongregation 1994 vertreten, in seiner Antwort auf den pastoralen Vorstoß der Bischöfe Kasper, Lehmann, Saier Keinerlei Ausnahmen. Wenn allerdings das Paar in Zweitehe vollkommen enthaltsam lebt, kann das Paar kommunizieren….. 

 

Es ist schon etwas seltsam, dass die Paarbeziehung an sich, die ja öffentlich bekundet, wird beim Kommuniongang wenig beachtet wird und es alleine auf sexuelle Aktivitäten in der Beziehung ankommt…. 

 

Da darf man doch „Amoris Laetitia“ als eine pastoral sinnvolle „Fortschreibung“ und „Differenzierung“ der kirchlichen Lehre nennen, die bei aller „Diskontinuität“ die Lehre „kontinuierlich“ ausdifferenziert und vertieft….

Geschrieben
vor einer Stunde schrieb Marcellinus:

Ja, und nein. Ich habe die Zeit von den 70ern bis heute bewußt erlebt. Was die Gesetze betraf, war die Bundesrepublik wirklich lange Zeit hinterher. Die Praxis dagegen war in aller Regel viel liberaler, solange nicht öffentliche Aufmerksamkeit dazu kam. Und die entstand immer dann, wenn versucht wurde, die längst erreichte praktische Liberalität auch in Gesetze zu gießen. Dann geriet es regelmäßig in die Mühlen der Parteipolitik und nach hinten los.

 

Was bestätigen würde, dass viele Leute leben und leben lassen, und dass es oft die Obrigkeit in der einen oder anderen Form ist, die versucht, den Leuten ins Privatleben hineinzureden. 

Geschrieben
vor 22 Minuten schrieb Cosifantutti:

Es ist schon etwas seltsam, dass die Paarbeziehung an sich, die ja öffentlich bekundet, wird beim Kommuniongang wenig beachtet wird und es alleine auf sexuelle Aktivitäten in der Beziehung ankommt…. 

 

@Werner001 hat das einmal gut formuliert - es ist die Kirche, bei der es immer um Sex geht. Ich versuche, seine Aussage mit meinen eigenen Worten zu rekonstruieren:

 

- Lebt das wiederverheiratete Paar zusammen, ist alles gut, solange es keinen Sex gibt - aber wehe es gibt Sex. (Das ist etwas vereinfacht; die Kirche duldet solche Partnerschaften, auch wenn sie asexuell sind, eigentlich nur aus besonderen Gründen wie dem Wohl von Kindern.)

- Leben Pfarrer und Haushälterin eng zusammen und empfinden eine tiefe Freundschaft ist alles gut - außer sie haben Sex.

- Empfinden zwei Personen des gleichen Geschlechts eine tiefe Sympathie, ist daran nichts auszusetzen - außer es kommt etwas Sexuelles mit hinein.

 

Für die Kirche ist Sex bzw. seine Abwesenheit ganz entscheidend.

Geschrieben
vor 9 Stunden schrieb iskander:

Die Quelle ist ein FAZ-Artikel, aber ich konnte nirgendwo bisher eine Bestätigung für die Behauptung von der verweigerten Taufe finden, und sie scheint mir extrem unplausibel.

 

Ich kenne es schon - das ist nun kein Beweis im strengen Sinne - dass in gewissen Kulturkreisen der Priester sehr deutlich macht, dass die Kindertaufe ohne zeitgleiche oder vorgängige Trauung der Eltern nicht in Frage komme. 

Geschrieben
vor 9 Stunden schrieb iskander:

In Irland und Spanien scheint die Kirche mit einem besonderen Nachdruck eine rigorose Sexualmoral verkündet zu haben; diese Moral scheint die öffentliche Haltung erheblich beeinflusst zu haben; starke Gegentraditionen gab es offenbar keine, oder sie wurden womöglich unterdrückt (Franco). Zumindest in Irland gab es zudem offenbar weitere Faktoren, die eine strenge Sexualmoral begünstigt haben. Dass die negativen Effekte der kath. Sexuallehre nur unter gewissen Bedingungen in Erscheinung treten, ändert aber nichts daran, dass es sie gibt und dass wesentliche Teile der kath. Sexualmoral in sich selbst toxisch sind.

 

Thesenhaft würde ich für Irland die Frage in den Raum stellen wollen, ob die über die Briten importierte Moral, dass man Menschen zur Arbeit um der Arbeit willen zwingen müsse (und entsprechende Armenhäuser einrichtete) hier nicht auch einen Beitrag leistete. Man folgte dann der "Logik": Wenn ein Mädchen unehelich schwanger wurde, dann konnte das ja nur Folge von Müssiggang sein, also...

Geschrieben
vor 8 Stunden schrieb iskander:

 

Was bestätigen würde, dass viele Leute leben und leben lassen, und dass es oft die Obrigkeit in der einen oder anderen Form ist, die versucht, den Leuten ins Privatleben hineinzureden. 

Aus den Erzählungen meiner Großeltern und wenn ich mir so die Daten in meiner Ahnentafel ansehe würde ich vermuten, daß die "öffentliche Moral" mehr eine Art Tünche war, die man zwar offiziell vertrat, aber dahinter stand ein gehöriges Maß an Realismus. Zumindest bei uns im Rheinland.

 

Interessant finde ich ja in dem Zusammenhang, daß es bei uns anscheinend keine Beschränkungen gab, eine Ehe einzugehen (jenseits der kirchlichen Ehehindernisse). Die Zahl der unehelichen Kinder war daher ziemlich überschaubar und ich denke nicht, daß die Dorfgemeinde mit der ich mir gerade beschäftige, sich in dieser Hinsicht von den 1.000 anderen in der Umgebung unterschied. Für den städtischen Bereich habe ich allerdings keine Vergleichsdaten.

 

Spannend könnte in diesem Zusammenhang allerdings ein Vergleich mit Österreich sein. Dort gab es sehr lange hohe finanzielle Hürden für die Heiratserlaubnis. Ich nehme an, vordergründig um die Gefahr des Sozialfalls zu verringern. Paradoxerweise sind die Zahlen der unehelichen Kinder dort allerdings massivst höher als bei uns. Für die Wende zum 19. Jahrhundert wird für das Erzbistum Salzburg mit 30% unehelichen Kindern kalkuliert, die Stadt Wien kam zeitweise auf über 50%! In einer Untersuchung kam für Wien heraus, daß die Hälfte (oder sogar 2/3) dieser Kinder Väter hatte, die entweder Handwerksgesellen oder Soldaten waren, sprich denen die finanziellen Mittel für die Heiratserlaubnis fehlten. Wie man in einer solchen Situation allerdings noch die Stigmatisierung unehelich Geborener ernsthaft aufrecht erhalten will, ist mir ziemlich schleierhaft.

Geschrieben

Eine interessante Diskussion, zu der ich eigentlich nur hinzufügen möchte, dass das 19. Jh. eben den Aufstieg des modernen Staates mit  Wissenschaft und Industrialisierung erlebte. Das viktorianische England war dort in jeder Hinsicht ein Vorreiter und erlebte somit auch eine umfassende „Hygiene- und Moralreform“, die einerseits den „Sündenpfuhl“ London mit der ersten modernen Polizeitruppe „trockenlegte“ und gleichzeitig der moderen Mittelklasse im größte Weltreich der Geschichte quasi ganz neue Gestaltungs- und Karriereoptionen offenlegte. Und das nach einem Vierteljahrhundert der erbitterten Auseinandersetzung mit Frankreich, in dem alle „natürliche und gottgewollte“ Ordnung systematisch zersetzt worden war.

In Irland wiederum setzte in der selben Zeit der moderne über hundertjährige Freiheitskampf ein, der wiederum Nationalidentität mit katholischem Selbstverständnis zu einer untrennbaren Einheit verschmolz - genauso in Polen zu betrachten, wie auch Spanien einen äußerst brutalen Selbstbehauptungskrieg gegen die französische Moderne durchmachte. Ich denke also, überall dort wo sich ein spezifischer kämpferischer Nationalkatholizismus durchsetzen konnte, dominierte auch die repressive Sexualmoral und die instititutionelle Übergriffigkeit kirchlicher Institutionen deutlich länger. Die Machtallianz von „Thron und Altar“ ist halt wesentlich durchsetzungsfähiger als weniger ideologisierte Herrschaftsformen.

Geschrieben
4 minutes ago, Flo77 said:

Spannend könnte in diesem Zusammenhang allerdings ein Vergleich mit Österreich sein. Dort gab es sehr lange hohe finanzielle Hürden für die Heiratserlaubnis. Ich nehme an, vordergründig um die Gefahr des Sozialfalls zu verringern. Paradoxerweise sind die Zahlen der unehelichen Kinder dort allerdings massivst höher als bei uns. Für die Wende zum 19. Jahrhundert wird für das Erzbistum Salzburg mit 30% unehelichen Kindern kalkuliert, die Stadt Wien kam zeitweise auf über 50%! In einer Untersuchung kam für Wien heraus, daß die Hälfte (oder sogar 2/3) dieser Kinder Väter hatte, die entweder Handwerksgesellen oder Soldaten waren, sprich denen die finanziellen Mittel für die Heiratserlaubnis fehlten. Wie man in einer solchen Situation allerdings noch die Stigmatisierung unehelich Geborener ernsthaft aufrecht erhalten will, ist mir ziemlich schleierhaft.


Ob das zu meiner These passt, dass ein alter und gewohnter „moralischer Schlendrian“, der nicht von äußeren Feinden, politischer und sozialer Revolution herausgefordert wird, einfach eine tolerantere Alltagsmoral fortpraktiziert?

Geschrieben
vor 17 Minuten schrieb Shubashi:


Ob das zu meiner These passt, dass ein alter und gewohnter „moralischer Schlendrian“, der nicht von äußeren Feinden, politischer und sozialer Revolution herausgefordert wird, einfach eine tolerantere Alltagsmoral fortpraktiziert?

Es ist ja nicht ungewöhnlich, daß "Geborene" häufig kreativer oder pragmatischer mit den Regeln einer Gemeinschaft umgeht als Konvertiten.

 

Insofern dürfte ein gewisser "Schlendrian" sogar völlig normal sein, wenn man die Leute in Ruhe lässt.

Geschrieben
vor 17 Stunden schrieb Cosifantutti:

Ja, entscheidend ist die Forderung nach vollkommener Enthaltsamkeit in der Zweitehe, das ist das Kriterium, das den Zugang zur Kommunion ermöglicht und erlaubt. Offensichtlich sind das entscheidende, praktische Konsequenzen aus seiner „Theologie des Leibes“. Genau so hat Josef Ratzinger auch als Chef der Glaubenskongregation 1994 vertreten, in seiner Antwort auf den pastoralen Vorstoß der Bischöfe Kasper, Lehmann, Saier Keinerlei Ausnahmen. Wenn allerdings das Paar in Zweitehe vollkommen enthaltsam lebt, kann das Paar kommunizieren….. 

 

Es ist schon etwas seltsam, dass die Paarbeziehung an sich, die ja öffentlich bekundet, wird beim Kommuniongang wenig beachtet wird und es alleine auf sexuelle Aktivitäten in der Beziehung ankommt…. 

 

Da darf man doch „Amoris Laetitia“ als eine pastoral sinnvolle „Fortschreibung“ und „Differenzierung“ der kirchlichen Lehre nennen, die bei aller „Diskontinuität“ die Lehre „kontinuierlich“ ausdifferenziert und vertieft….

Naja, ein gutes Stück weit ist das, wenn man die Lebensrealität außen vor lässt und nur die Theologie betrachtet, nachvollziehbar.

 

Die Ehe ist im paulinischen Sinn die Lizenz zum Vögeln (1.  Kor. 7, insbesondere 2 - 7 und 9).

Eine Zweitehe nach Scheidung ist im kirchlichen Sinn keine Ehe und daher völlig unlizensiert, daher wäre Sex in einer solchen Zweitehe an und für sich bereits schwer sündhaft.


ich schrieb oben etwas von Theologie vs. Lebensrealität, und da ist eben die paulinische Auffassung von der Ehe als Unzuchtsverhinderungsinstitut selbst kirchlicherseits längst überholt. Wenn dem aber so ist, passt die Prämisse hinter der ganzen Lehre nicht mehr.

 

Soll heißen, wenn man in der Ehe mehr sieht als die Lizenz zum Vögeln, dann widerspricht auch eine neue Partnerschaft „wie Bruder und Schwester“ ohne Sex bereits 1. Kor 7, 10-11

 

Werner

Geschrieben (bearbeitet)
vor 16 Stunden schrieb Chrysologus:

Ich kenne es schon - das ist nun kein Beweis im strengen Sinne - dass in gewissen Kulturkreisen der Priester sehr deutlich macht, dass die Kindertaufe ohne zeitgleiche oder vorgängige Trauung der Eltern nicht in Frage komme. 

 

Das hätte ich mir nun wirklich nicht vorstellen können, denn das würde ja darauf hinauslaufen, dass man einem unschuldigen Menschen womöglich die Option, in den Himmel zu gelangen, vorenthält. Widerspricht das nicht (schon seit langem) dem kirchlichen Recht?

 

vor 16 Stunden schrieb Chrysologus:

Thesenhaft würde ich für Irland die Frage in den Raum stellen wollen, ob die über die Briten importierte Moral, dass man Menschen zur Arbeit um der Arbeit willen zwingen müsse (und entsprechende Armenhäuser einrichtete) hier nicht auch einen Beitrag leistete. Man folgte dann der "Logik": Wenn ein Mädchen unehelich schwanger wurde, dann konnte das ja nur Folge von Müssiggang sein, also...

 

Neben dem Beitrag der kath. Kirche - oder zusammen mit ihm - kommen noch andere Faktoren in Betracht, die in der folgenden Rezension genannt werden:

 

"Before the mid-19th century, the Irish were not more notably neurotic about sex than anybody else. The traumatic famine of the 1840s, however, had huge and long-lasting effects. The perception that the famine had been caused by overpopulation caused a shift in the nature of the rural economy. Land must no longer be subdivided. The eldest son would not marry until he could inherit the farm. The other children would be condemned to celibacy or emigration. By the end of the Second World War, Ireland had one of the lowest marriage rates in the world: 65% of the population were single."

 

Hier wäre es natürlich interessant, welche Rolle womöglich die Lehre vom Verbot jeder nicht-ehelichen Sexualität und vom Verbot der Verhütung in diesem Zusammenhang gespielt haben mag, und ob es hier zu einer ungünstigen Wechselwirkung kam. Weiter im Text:

 

"This was the context in which Ireland received a double whammy of puritanism: Victorian respectability from England and a particularly rigid form of Catholicism from Rome. These mutually reinforcing ideologies were strengthened by the rise of nationalism. Irish purity and chastity were contrasted to a supposed English decadence. While none of these elements was unique to Ireland, the combination produced a particularly toxic combination of class snobbery, misogyny, hysteria and self-delusion." 

 

Quelle:

https://www.theguardian.com/books/2009/oct/11/occasions-sin-diarmaid-ferriter-fintan 

 

bearbeitet von iskander
Geschrieben (bearbeitet)
vor 13 Stunden schrieb Flo77:

Aus den Erzählungen meiner Großeltern und wenn ich mir so die Daten in meiner Ahnentafel ansehe würde ich vermuten, daß die "öffentliche Moral" mehr eine Art Tünche war, die man zwar offiziell vertrat, aber dahinter stand ein gehöriges Maß an Realismus. Zumindest bei uns im Rheinland.

 

Mein bisheriger Eindruck ist der, dass die Kirche zwar offiziell einen gnadenlosen Krieg gegen die Sexualität führte (man bedenke, dass laut kirchlicher Moral zeitweise und in manchen Gegenden selbst ein ehelicher Koitus wohl gerade noch in fünf Monaten im Jahr erlaubt war - und das auch dann nur, wenn man Kinder zeugen wollte). In der Praxis scheint das aber doch oftmals alles nur begrenzten Einfluss gehabt zu haben; sei es, weil die Leute sich nicht groß um die verkündete gekümmert hat, sei es, weil die Kirche selbst sich zurückgehalten hat. Wenn beispielsweise ein Bischof oder Pfarrer völlig offen und ungeniert (und nicht etwa heimlich!) mit einer "Konkubine" zusammengelebt hat, oder gar mit mehreren, wird er es sich vielleicht auch schlecht erlaubt haben können, ständig jeden nicht-ehelichen Geschlechtsverkehr in Bausch und Bogen zu verdammen. Bischof Heinrich von Lüttich beispielsweise zeugte laut einer Quelle 61 Kinder. 

 

Mein Eindruck ist, dass allgemein gesprochen die "Bürgermoral" mehr konkrete und reale Folgen für den modernen Menschen und seine Sexualität zeitigte als die kirchliche Moral. Das ist eine grobe Aussage, und sehr wahrscheinlich gibt es auch Gegenbeispiele, aber ich würde an dieser Stelle vermuten, dass sich das als eine Faustregel halten lässt.

 

bearbeitet von iskander
Geschrieben
vor 7 Minuten schrieb iskander:

Mein Eindruck ist, dass allgemein gesprochen die "Bürgermoral" mehr konkrete und reale Folgen für den modernen Menschen und seine Sexualität zeitigte als die kirchliche Moral. Das ist eine grobe Aussage, und sehr wahrscheinlich gibt es auch Gegenbeispiele, aber ich würde an dieser Stelle vermuten, dass sich das als eine Faustregel halten lässt.

Das widerspricht aber etwas deiner These, die Katholika sei die Ursache für den irischen Umgang mit ledigen Müttern und ihren Kindern gewesen. ;)

 

Man sollte auch nicht vergessen, daß grundsätzlich jede Sünde auch beichtbar war. Sündigen auf die Barmherzigkeit Gottes hin ist zwar eine der Sünden wider den Heiligen Geist, aber wer wird da schon so kritisch sein.

Geschrieben (bearbeitet)
vor 14 Stunden schrieb Shubashi:

Das viktorianische England war dort in jeder Hinsicht ein Vorreiter und erlebte somit auch eine umfassende „Hygiene- und Moralreform“, die einerseits den „Sündenpfuhl“ London mit der ersten modernen Polizeitruppe „trockenlegte“ [...]

 

Wobei dieses "Trockenlegen" allerdings eine sehr umfassende Prostitution nicht zum Verschwinden brachte. Wir haben es hier wohl eher mit jener Heuchelei und Doppelmoral zu tun, die sich offenbar (fast ?) überall dort einstellt, wo eine strenge Sexualmoral als offizielle gesellschaftliche Norm anerkannt wird:

 

"Als Beispiel für viktorianische Doppelmoral wird oft die ausufernde Prostitution genannt, die der offiziell gepriesenen Selbstbeherrschung und ehelichen Treue widerspricht. Tatsächlich tendierten viele Männer des Mittelstands dazu, die Heirat bis zum Aufbau einer gewissen finanziellen Sicherheit aufzuschieben und Zuflucht bei Prostituierten –, deren tatsächliche Gesamtzahl schwer zu ermitteln ist –, zu suchen. Umgekehrt erschien die Prostitution vielen Frauen, hauptsächlich aus der Unterschicht, als Möglichkeit zur Aufbesserung des Einkommens. Nach zahlreichen Fällen von Geschlechtskrankheiten im Militär wurden in den 1860er Jahren die Contagious Diseases Acts verabschiedet, die ärztliche Zwangsuntersuchungen bei mutmaßlichen Prostituierten, nicht aber bei Soldaten anordneten."

https://de.wikipedia.org/wiki/Viktorianisches_Zeitalter

 

Ich habe die Zahlen nicht mehr in Erinnerung, aber die Rate an Neuinfektionen in der Armee scheint damals außerordentlich hoch gewesen zu sein. Für die "einfachen" Leute dürfte die Viktorianische Sexualmoral vermutlich eh keine allzu große Rolle gespielt haben; und wo sie eine Rolle spielte, war diese wohl eher nicht die offiziell erwünschte: 

 

"Mit der trauernden Königin [Victoria] schien auch das gesamte Land in eine freudlose Zeit zu versinken. Die Sittenstrenge des verstorbenen deutschen Prinzen [Albert] breitete sich schließlich in ganz England aus, Hand in Hand mit einer rigiden Sexualmoral. [...] Die übertriebenen moralischen Vorstellungen hatten jedoch zu einem besonders verbrecherischen Auswuchs im Gebiet der käuflichen Liebe geführt. Von der allgemeinen Verehrung der Unbeflecktheit beseelt, hatte sich ein wahrer Fetisch für Jungfrauen entwickelt. Um diese Nachfrage zu befriedigen, wurden reihenweise Mädchen entführt und an gut zahlende Kunden verschachert. Eine besonders berüchtigte Kupplerin war eine gewisse Mrs Jeffries, die von Kunden wie dem belgischen König 1800 Pfund im Jahr für die Beschaffung von „frischen“ Mädchen bezog. [...] Gerade an dem „englischen Laster“, der Begeisterung für Lustschmerz, zeigt sich deutlich, wie wenig die sittlichen Bemühungen Prinz Alberts fruchteten. Eine Bestrafungsmethode für unfolgsame Kinder wurde von den Menschen zum lustvollen Element des sexuellen Spiels umgedeutet. Die moralischen Vorsätze kehrten sich um ins Gegenteil. Die keuschen Ehefrauen hatten nur zu einem Anstieg der Prostitution geführt. Das Ideal der Jungfräulichkeit hatte einen verbrecherischen Menschenhandel ins Leben gerufen. Sogar in der königlichen Familie waren die moralischen Grundsätze in der Erziehung fruchtlos geblieben. Der Thronerbe Albert Edward wurde wegen seines unsoliden Lebenswandels vom Volk nur „Dirty Bertie“ genannt."

https://www.focus.de/wissen/mensch/geschichte/deutscher-moralist-im-suendigen-england-prinz-albert_id_1807253.html

 

Es ein allgemeines Muster zu sein, dass dort, wo man die Sexualität besonders rigoros unterdrückt, Heuchelei und Exzess blühen, manchmal auch Rohheit, was ja auch in diesem Thread bereits thematisiert worden war. Beispielsweise wird in jener Buch-Rezension, aus der ich bereits zitiert hatte, das folgende zu den Verhältnissen im damaligen streng katholischen und prüden Irland gesagt:

 

"Around the same time that Philip Larkin claimed, in an ironic tone, that sexual intercourse began in 1963, the ultra-Catholic Irish politician Oliver J Flanagan insisted, in all seriousness, that there had been no sex in Ireland before television. Flanagan's claim was idiotic but not entirely nonsensical. It all depends, as Bill Clinton and many others could explain, what you mean by sex. If sex is a physical function, it is a reasonable assumption that it had been up and running for some time before the arrival of the goggle box. If, though, sex is a publicly acknowledged source of mutual pleasure, there is some truth in the notion that it was largely absent from the Irish state between its foundation in 1922 and the gradual process of liberalisation that began in the 1960s. [...]

When all sex is badness, the difference between rape and consent, between mutual affection and cruel exploitation, is blurred. This in turn means, as Ferriter shows, that a society in which sex is identified with shame becomes neither innocent nor moral. It becomes, rather, both deeply cruel and extravagantly hypocritical. [...]"

 

Zwar hätten Staat und Kirche alles getan, um eine rigorose Sexualmoral durchzusetzen, aber das Ziel nicht erreicht: 

 

"It is hard to think of anything more that Irish governments and the Catholic church could have done in their efforts to control sexual behaviour. The state banned contraceptives, divorce, abortion and even adoption. It implemented sweeping censorship of literature and cinema. The church, for its part, mobilised a powerful array of social and psychological weapons, preaching in effect that sex was the only sin. [...]

Yet none of this stopped sex. It merely tended to make it furtive, exploitative, unsafe and shrouded in shame. [...]  The other side of this hysterical hatred of the body was brutality. Drawing on court files and official records, Ferriter explores the high levels of child sexual abuse (both in church-run institutions and in the family), infanticide, prostitution and venereal diseases, the vulnerability of servants to assault by their employers and the steady stream of unmarried mothers entering church-run homes or escaping to England."

https://www.theguardian.com/books/2009/oct/11/occasions-sin-diarmaid-ferriter-fintan

 

Ein Beispiel für exzessive Doppelmoral wäre auch der Vatikan selbst, jedenfalls wenn man dem französischen Soziologen F. Martel und seinen umfangreichen Recherchen Glauben schenken darf. Demnach blüht im Vatikan weithin die ausgelebte Homosexualität, oft mit männlichen Prostituierten. (Ein besonders illustratives Beispiel wäre wohl Alfonso Kardinal López Trujillo: Dieser unter JPII sehr mächtige Kirchenmann und Präsident des Päpstlichen Rates für die Familien, der mitunter als der "Papst Südamerikas" betrachtet wurde, hat nicht nur besonders eifrig gegen Homosexualität und Verhütung gekämpft, sondern hatte laut Martel belegbar einen ausgeprägten und promiskuitives homosexuellen Lebenswandel gepflegt. Die männlichen Prostituierten, mit denen er zusammen war, hat er offenbar brutal behandelt und geschlagen.)

 

Es gibt zum Verhältnis der kath. Kirche zur Sexualität (laut einem Redddit-User) ein schönes Zitat von Stephen Fry:

 

"It’s the strangest thing about this church - it is obsessed with sex, absolutely obsessed. Now, they will say we, with our permissive society and rude jokes, are obsessed. No. We have a healthy attitude. We like it, it’s fun, it’s jolly; because it’s a primary impulse it can be dangerous and dark and difficult.

It's a bit like food in that respect, only even more exciting. The only people who are obsessed with food are anorexics and the morbidly obese, and that in erotic terms is the Catholic Church in a nutshell."

 

Ähnliches scheint wie gesagt auch für andere zu gelten, die eine besonders strenge und prüde Sexualmoral hochhalten. Wenn konservative Katholiken das Wort Jesu von den guten und den schlechten Früchten ernst nehmen würden, so müssten sie eigentlich zum Nachdenken gelangen. 

 

Zitat

In Irland wiederum setzte in der selben Zeit der moderne über hundertjährige Freiheitskampf ein, der wiederum Nationalidentität mit katholischem Selbstverständnis zu einer untrennbaren Einheit verschmolz - genauso in Polen zu betrachten, wie auch Spanien einen äußerst brutalen Selbstbehauptungskrieg gegen die französische Moderne durchmachte. Ich denke also, überall dort wo sich ein spezifischer kämpferischer Nationalkatholizismus durchsetzen konnte, dominierte auch die repressive Sexualmoral und die instititutionelle Übergriffigkeit kirchlicher Institutionen deutlich länger. Die Machtallianz von „Thron und Altar“ ist halt wesentlich durchsetzungsfähiger als weniger ideologisierte Herrschaftsformen.

 

Das scheint mir plausibel zu sein - siehe auch meine Antwort von vorhin zu Irland an @Chrysologus. Zusätzlich auch noch dieses Zitat:

 

"Keeping up appearances was crucial. There was an obsession with the idea that Ireland's chastity was under assault from England, both as the source of evil literature and ideas, and as the place where innocent Irish emigrants would be corrupted."

bearbeitet von iskander
Geschrieben (bearbeitet)
vor 40 Minuten schrieb Flo77:
vor 51 Minuten schrieb iskander:

Mein Eindruck ist, dass allgemein gesprochen die "Bürgermoral" mehr konkrete und reale Folgen für den modernen Menschen und seine Sexualität zeitigte als die kirchliche Moral. Das ist eine grobe Aussage, und sehr wahrscheinlich gibt es auch Gegenbeispiele, aber ich würde an dieser Stelle vermuten, dass sich das als eine Faustregel halten lässt.

Das widerspricht aber etwas deiner These, die Katholika sei die Ursache für den irischen Umgang mit ledigen Müttern und ihren Kindern gewesen. ;)

 

Wie gesagt gehe ich davon aus, dass es auch Gegenbeispiele gibt. In Irland etwa scheint die kirchliche Moral ein wesentlicher Faktor für die Prüderie gewesen zu sein, während ich bezweifeln würde, dass das gleiche für England gilt. Allerdings müsste man dort auch den (langfristigen) Einfluss des Puritanismus berücksichtigen und sich auch fragen, ob vielleicht die Bürgermoral auf dem Boden der klassischen christlichen Sexualmoral besonders gut gedeihen konnte - das sind in der Tat aber spezielle historisch-soziologische Fragestellungen, die über das hinausgehen, wozu ich allzu viel Fundiertes sagen kann.

 

Es ist zudem auch schwierig, alle Faktoren auseinanderzudividieren und ihre jeweilige Relevanz im Verhältnis zu anderen Faktoren zu bestimmen. Aber zumindest so viel lässt sich laut den von mir herangezogenen Texten zu Irland sagen:

 

- Die Kirche hatte offenkundig einen enormen Einfluss auf Gesellschaft und Staat. 

(In einem Bericht etwa heißt es: "Bis 1973 verabschiedete das Parlament kein Gesetz ohne Zustimmung der Kirche, die den größten Teil der sozialen Infrastruktur an sich gezogen hatte: Schulen, Krankenhäuser, Kinder- und Frauenheime. Der Priester war die Autorität jedes Dorfes. Er repräsentierte Gott auf Erden. Wer ihm widersprach, landete in der Hölle. Der Pfarrer brachte moralische Regeln zur Geltung – mit oft alttestamentarischer Strenge." Wenn der Pfarrer beispielsweise gesagt hat, dass die Tochter weg in ein entsprechendes kath. Heim muss, dann hat man ihm im allgemeinen offenbar nicht widersprochen, sondern die Tochter eben ins kath. Heim gesteckt.)

 

- Die Kirche in Irland hat scheinbar so ziemlich alles getan, um die Sexualität zu verteufeln. Laut einem Artikel (aus dem ich in meinem letzten Beitrag zitiert habe) hat die Kirche sich ganz auf "sexuelle Sünden" konzentriert, "preaching in effect that sex was the only sin".

 

Es erscheint als sehr plausibel, dass die Kirche im Hinblick auf die Sexualfeindlichkeit eine wichtige Rolle gespielt hat, und alle mir bekannten Quellen scheinen das ebenso zu sehen. 

 

vor 40 Minuten schrieb Flo77:

Man sollte auch nicht vergessen, daß grundsätzlich jede Sünde auch beichtbar war.

 

Es wird von den Betroffenen aber offenbar häufig negativ erlebt, manchmal extrem negativ, wenn sie ihre Sexualität im Detail offenlegen sollen, und es scheint auch viele Leute - etwa Jugendliche und Ehepaare - aus der Kirche herausgetrieben zu haben. Ich hatte dazu schon viel zitiert und verlinkt, etwa aus Cornwells Buch über die Beichte. Es sei mir daher vergönnt, dass ich daher nur erneut auf eine moderne Schilderung hinweise, aus der ich erst kürzlich zitiert hatte (siehe hier). 

 

bearbeitet von iskander

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