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Herausgegeben vom Presseamt des Erzbistums Köln, Marzellenstraße 32, 50668 Köln

Tel. 02 21/16 42-14 11 und -19 31, Fax 02 21/16 42-16 10

E-Mail: presse@erzbistum-koeln.de; Internet: www.erzbistum-koeln.de

Redaktion: Dr. theol. Manfred Becker-Huberti

 

Aktualisierte Fassung

 

"Europa und seine Lebenswerte"

 

Vortrag des Erzbischofs bei der Konrad Adenauer-Stiftung und der Hanns Seidel-

Stiftung am 24. Oktober 2003 in Budapest

 

Sehr geehrte Damen und Herren!

 

In Europa ist Gott weithin abhanden gekommen. Da unsere Zivilisation und Kultur

in Europa nur vom Evangelium und vom Dasein der Kirche her verstehbar ist, macht

sich dieser Säkularisationsprozess auf allen Ebenen des Lebens innerhalb und außerhalb

der Kirche schmerzlich deutlich.

Im gegenwärtigen gesellschaftlichen Kontext in Europa herrscht ein düsteres Bild

vom Menschen vor. Das Große und Heilige ist von vornherein verdächtig und muss

vom Sockel gerissen und durchschaut werden. Moral gilt als Heuchelei und Glück

als Selbstbetrug. Wer einfach dem Schönen und Guten traut, ist entweder von

sträflicher Ahnungslosigkeit oder verfolgt böse Absichten. Der Verdacht ist die eigentliche

moralische Grundkategorie, die eigentliche Haltung. Die Entlarvung ist der

größte gesellschaftliche Erfolg. Gesellschaftskritik hat die erste Pflicht zu sein. Die

Gefahren, die uns bedrohen, können gar nicht grell und grausam genug gezeichnet

werden. Allerdings ist die Lust am Negativen nicht unbegrenzt. Gleichzeitig gibt es

nämlich eine Pflicht zum Optimismus, die nicht ungestraft verletzt werden darf. Wer

etwa die Meinung äußern wollte: "Nicht alles in der geistigen Entwicklung der NeuPEK-

Skript Europa und seine Lebenswerte / Seite 2

zeit sei richtig gewesen; in einigen wesentlichen Punkten sei eine Rückbesinnung

auf die gemeinsame Weisheit der großen Weltkulturen erforderlich", hat offenbar

die falsche Art von Kritik gewählt. Er findet sich einer entschlossenen Verteidigung

der neuzeitlichen Grund-entscheidungen gegenüber und der Überzeugung, dass die

Grundlinien der geschichtlichen Entwicklung "Fortschritt" heißt. Das Gute liege daher

in der Zukunft und nirgendwo sonst; das darf bei aller Lust am Negativen nicht

bestritten werden.

Eine der folgenreichsten, falschen Grundentscheide der Neuzeit ist der Verzicht auf

Transzendenz, das ist auf Gott. Unser Europa wurde bis in die jüngste Vergangenheit

hinein mit dem Eigenschaftswort "christlich" definiert. Wir sprachen immer von

einem christlichen Europa bzw. vom christlichen Abendland. Die Kultur und die Zivilisation

Europas tragen eine Vielzahl grundlegender menschlicher Werte in ihrem

Schoß, die ihre Quelle eindeutig im Evangelium Christi haben.

Da ist zunächst die Einmaligkeit eines jeden Menschen im europäischen Wertekanon

zu erkennen. Biologisch, psychologisch und soziologisch ist jedes Menschenwesen

absolut einmalig und darum unvergleichbar. Daraus folgt die Würde jedes Menschen

und mithin das Recht auf Achtung vonseiten des Einzelnen und der Gesellschaft.

Sodann ergibt sich aus dieser Einmaligkeit die Freiheit eines jeden Einzelnen

und das Recht, die konkrete Gestaltung seiner Existenz selbst zu wählen und selbst

zu bestimmen, oder die Gleichheit aller Menschen untereinander, die jede Diskriminierung

ausschließt. Diese Werte - etwa Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - prägen

das soziale und das moralische Bild des Abendlandes und sind gleichsam der Ausdruck

des europäischen Humanismus.

Dazu gehört eine wesentliche Grundkategorie des Christentums, das sich darin eins

weiß mit der gesamten "vormodernen" Menschheit, nämlich, dass im Sein des Menschen

immer ein Sollen liegt, dass der Mensch nicht selbst aus Zweckmäßigkeitberechnungen

Moral erfindet, sondern er Moral im Wesen der Dinge vorfindet.

Menschliche Vernunft beruht auf der Fähigkeit, diese Botschaft der Dinge zu vernehmen

und danach sein Handeln auszurichten. Vernunft hat etwas mit "vernehmen"

zu tun. Der Tatsache, dass es den einen Menschen in zwei Grundausstattungen

gibt, nämlich als Mann und Frau, geht eine Botschaft aus, nämlich, dass der

Mann auf die Frau hin geordnet ist und die Frau auf den Mann, dass sie sich in der

Ehe gegenseitig ergänzen und in der Familie fruchtbar werden, sodass der Fortbestand

der Menschheit damit gesichert ist. Homosexualität etwa ist in der Schöpfungsordnung

nicht vorgesehen. Das Gesetz Israels als Glaubensnorm verband den

Kosmos mit der Geschichte und war Ausdruck der Wahrheit des Menschen wie der

Wahrheit der Welt überhaupt. Damit verband sich die Überzeugung von den objekPEK-

Skript Europa und seine Lebenswerte / Seite 3

tiven Werten, die sich im Sein der Welt aussagen, der Glaube, dass es Haltungen

gibt, die der Botschaft der Schöpfung entsprechend wahr und immer gut sind und

dass es ebenso andere Haltungen gibt, die - weil dem Dasein widersprechend -

falsch und immer schlecht sind. Es verband sich damit die Überzeugung, dass uns

der Wille des Schöpfers darin anruft und dass im Einklang unseres Willens mit dem

Seinen unser eigenes Wesen recht und gut ist.

Alle diese humanistischen Werte, die unser Europa geprägt haben, sind bei näherer

Analyse - ich habe es schon angedeutet - typisch christliche Werte. Der europäische

Humanismus ist heute jedoch kaum mehr in einer christlichen Sicht der Welt

begründet, wo Gott der Schöpfer und höchste Garant dieser eben genannten Werte

und Normen ist. Es fehlt in der europäischen Gegenwart der Bezugspunkt, den das

Absolute - nämlich Gott - für diese Werte darstellt. Wenn nun aber die humanistischen

Werte und Ideen Europas auf sich selbst gestellt sind und nicht mehr um diesen

gemeinsamen Bezugspunkt, um diese Verbindung mit dem transzendenten Absoluten

wissen, dann ist dies nicht einfach nur bedauerlich, sondern höchst gefährlich.

Sie scheiden dann nämlich gleichsam auf natürliche Weise giftige Stoffe aus,

die langsam das lebendige Gewebe unseres christlichen Abendlandes verseuchen

und vergiften und schließlich zerstören, so dass die abendländische Gesellschaftsordnung

kollabieren muss. Hier gilt das biblische Wort: "Wer nicht für mich ist, der

ist gegen mich; wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut" (Mt 12,30). Die Entkoppelung

der Werte von dem transzendenten Bezugspunkt, von Gott, ist nicht eine neutrale

Erscheinung, sondern eine Bedrohung. Unsere europäische Gegenwart trägt

darum auf vielfältige Weise solche Todeskeime in sich, die den gesunden Organismus

vergiften, ja zum Kollabieren kommen lassen. Man sollte sich nicht beeindrucken

lassen von dem Wort: "Du bist ein Kulturpessimist". "Die Wahrheit wird euch

freimachen" (Joh 8,32), sagt die Heilige Schrift. Darum müssen wir uns der Analyse

der Gegenwart stellen, wie sie nun einmal ist. Ich möchte für diese These einige Beispiele

anführen.

Der Wille, die angestammten Rechte eines jeden einzelnen Menschen anzuerkennen

und zu gewähren, umfasst die entsprechenden Verpflichtungen von Seiten der anderen

und der Gesellschaft bzw. des Staates. Diese Garantie der Rechte einer jeden

Person kann jedoch zu einem hemmungslosen und grenzenlosen Individualismus

führen, in dem dann der Einzelne so lebt, als sei er seiner Familie, seinem Land, seinem

Staat, seiner Gesellschaft, seiner Kirche nichts mehr schuldig. Vielmehr, so

meint er, seien es immer die Anderen - die Familie, die Gesellschaft, die Kirche -, die

ihm etwas schulden. Ein solcher Personalismus gleitet oft in Zügellosigkeit, Anarchie

und Narzissmus ab.

PEK-Skript Europa und seine Lebenswerte / Seite 4

Ein anderes Beispiel: Man will eine Gesellschaft schaffen, in der jeder und alles

wirklich "gleich" sei. Nicht selten führt dies jedoch in eine nivellierende Utopie, wo

jede Differenzierung mit Bedacht ausgelöscht und eingeebnet wird. Ein solches

Streben nach Gleichheit endet oftmals in einer Art Gleichmacherei, die schließlich

alle Impulse, die einer Gesellschaft Profil zu geben vermögen, schwächt und alles in

ein langweiliges, tödliches Grau eingießt, einwalzt und einbetoniert. Das war dann

ja auch das Profil der sogenannten sozialistischen Gesellschaften. Das Recht auf

Anderssein als einer Quelle der Inspiration, des Fortschritts wird hier praktisch

nicht anerkannt.

Ein weiteres Beispiel ist die Drogensucht. Das Drogenproblem ist ein Phänomen der

Neuzeit. In dem Augenblick, in dem Lenin die Religion als "Opium für das Volk" diffamierte,

griffen die Menschen zur Droge. Die Versuchung zur Droge ist z.B. aus dem

Mittelalter nirgendwo berichtet, weil damals der Durst der menschlichen Seele, des

inneren Menschen, eine Antwort fand, die die Droge erübrigte. Im Drogenproblem

wird der Protest gegen ein Dasein deutlich, das "als Gefängnis empfunden wird. "Die

große Reise", die die Menschen in der Droge versuchen, ist die Pervertierungsform

der Mystik, die Pervertierung des menschlichen Unendlichkeitsbedürfnisses, das

Nein zur Unübersteigbarkeit der Immanenz und der Versuch, die Grenzen des eigenen

Daseins ins Unendliche hinein zu entschränken. Das geduldige und demütige

Abenteuer der Askese, die sich in kleinen Schritten des Aufstiegs dem absteigenden

Gott nähert, wird durch die magische Macht der Droge ersetzt, der sittliche und religiöse

Weg durch die Technik der Gefühle. Die Droge ist so die Pseudo-Mystik einer

Welt, die nicht glaubt, aber dennoch den Drang der Seele nach dem Unendlichen

nicht abschütteln kann. Insofern ist die Droge ein Warnzeichen: Sie deckt nicht nur

ein Vakuum in unserer Gesellschaft auf, dem ihre Instrumente nicht abhelfen können;

sie verweist auf den inneren Anspruch des menschlichen Wesens, der sich in

pervertierter Form zur Geltung bringt, wenn er die rechte Antwort nicht findet.

Hier gehört auch der Terrorismus als Beispiel her. Der Ausgangspunkt des Terrorismus

ist dem der Droge nahe verwandt: Auch hier steht am Anfang der Protest gegen

die Welt, wie sie ist und das Verlangen nach einer besseren Welt. Der Terrorismus

ist von seiner Wurzel her ein Moralismus, allerdings ein fehlgeleiteter, der zur

grausamen Parodie auf die wahren Ziele des Moralischen wird. Es ist kein Zufall,

dass der Terrorismus in Deutschland seinen Anfang an den Universitäten genommen

hat und hier wieder im Umkreis moderner Theologie bei ursprünglich stark vom

Religiösen herkommenden jungen Menschen. Der Terrorismus der ersten Stunde war

ein ins Irdische umgeleiteter religiöser Enthusiasmus, eine in politischen Fanatismus

transponierte messianische Erwartung. Der Glaube ans Jenseits war zerbrochen oder

belanglos geworden. Der Maßstab der jenseitigen Erwartung aber wurde nicht

PEK-Skript Europa und seine Lebenswerte / Seite 5

preisgegeben, sondern nun an die gegenwärtige Welt angelegt. Gott wurde nicht

mehr als wirklich Handelnder angesehen, aber die Erfüllung seiner Verheißungen

nach wie vor - und erst recht - verlangt. "Gott hat keine anderen Arme und Hände

als die unsrigen", - das hieß nun, dass die Einlösung dieser Verheißungen von uns

selbst besorgt werden kann und muss.

Der Ekel an der geistigen und seelischen Leere unserer Gesellschaft, der Anspruch

auf das unbedingte Heil ohne Schranken ist die sogenannte religiöse Komponente

im Terrorismus, die ihm die Schwungkraft und die Leidenschaft des Idealistischen

gab. Dies alles wird so gefährlich aufgrund der entschiedenen Diesseitigkeit der

messianischen Hoffnung. Vom Bedingten wird das Unbedingte, vom Endlichen das

Unendliche verlangt. Dieser innere Widerspruch zeigt die eigentliche Tragik des Phänomens

auf, in dem die große Berufung des Menschen zum Instrument der großen

Lüge wird.

Ein weiteres Beispiel: Eine omnipotente Naturwissenschaft wird zur großen Gefährdung

des Menschen. Die Wissenschaft hat in Europa dazu geführt, die Verfahrensmethoden

der experimentellen Forschung auch auf die Gebiete des menschlichen

Lebens, der Kultur, der Religion, der Ethik, der Moral, der Künste, der Erziehung und

der Menschenführung auszudehnen. Hierbei kam es zur unheilvollsten Übertragung.

Denn um leben, um als Mensch überleben zu können, bedarf das Menschliche von

Natur aus der Dauer, der Stabilität, der Gewissheit des Absoluten, ja des Heiligen.

Nun aber wird der Bereich der Wissenschaft und der Technologie von Folgendem

geprägt: Rasches Veralten des Erreichten, vom Wesen her ständiges Infragestellen

der Grundsätze selbst, der Hypothesen und der Ideen. Es zeigen sich hier ein Relativismus

und ein Pluralismus, die nicht einfach auf den Menschen übertragen werden

können, ohne dass dieser selbst an Leib und Seele verkümmert und schließlich

stirbt.

Unsere Frage lautet deshalb: Kann der europäische Mensch aus eigener Kraft all

diese Gifte ausschwitzen oder überwinden? Oder kann man berechtigterweise nur

dann auf eine Tiefenheilung hoffen, wenn die europäischen Werte wieder ihre Quelle

finden, ihren gemeinsamen Bezugspunkt: das transzendentale Absolute, das wir

Gott nennen?

Christus wird in der Christologie als "ecce Deus" und "ecce homo" definiert. Unsere

europäische Anthropologie ist darum christologisch in der dogmatischen Formel

von Chalcedon verwurzelt, wo das Konzil erklärt: Christus ist wahrer Gott und

wahrer Mensch. Das Dogma betont damit die enge Verwandtschaft zwischen dem

PEK-Skript Europa und seine Lebenswerte / Seite 6

Göttlichen und dem Menschlichen, ihre wesensgemäße Übereinstimmung, die es

dem göttlichen Wort ermöglicht, die Hypostase der menschlichen Natur zu werden.

Deswegen sagt z.B. Romano Guardini in seinem berühmten Vortrag auf dem ersten

Berliner Katholikentag im Jahre 1958: "Nur wer Gott kennt, kennt auch den Menschen."

Die Gottähnlichkeit des Menschen, der ja nach dem Bilde Gottes erschaffen

ist, vollendet sich in der Menschwerdung Gottes. Nirgends ist der Mensch in seiner

Würde deshalb höher definiert als im Christentum. Die orthodoxen Kirchen haben

sogar den Mut von der Gottwerdung des Menschen durch die Menschwerdung

Gottes zu sprechen. So wie ein Spiegel keinen nicht-existierenden Gegenstand widerzuspiegeln

vermag, so wäre in der Tat die menschliche Person in ihrem Durst

nach dem Absoluten und dem Unendlichen ohne einen absoluten Archetyp

unerklärlich.

Erlauben Sie, dass ich dies noch an einem anderen Beispiel zu verdeutlichen suche.

Ich musste einmal für ein halbes Jahr zu einer stationären Behandlung in ein staatliches

Krankenhaus der ehemaligen DDR. Mein Zimmer musste ich mit einem handfesten

Atheisten teilen, der Mitglied der SED war. Wenn man dann so gemeinsam

buchstäblich auf dem "Kreuz liegt" und an die Decke des Krankenzimmers schaut,

sagt man sich schon einmal Dinge, die man sich von Angesicht zu Angesicht nicht

so unbedingt sagen würde.

Eines Tages fragte mich dieser Atheist: "Eigentlich bist du doch ein ganz 'normaler

Typ'. Wie kannst du eigentlich noch an Gott glauben?" Ich überlegte, wie ich diesem

Mann eine Brücke zu der Welt Gottes bauen konnte. Schließlich antworte ich ihm

mit einer Gegenfrage: "Möchtest du schlecht sein, und zwar so schlecht, dass ein

jeder andere sagt: Der ist keinen Schuss Pulver wert?" "Das möchte ich natürlich

nicht!", gab mir dieser zur Antwort. "Aber du sagst doch, du seist Materialist", antwortete

ich ihm. "Als Materialist aber bist du der Überzeugung, dass jede Wirkung

eine Ursache hat. Ich frage dich deshalb noch einmal: Warum möchtest du nicht

schlecht sein? Das muss doch eine Ursache haben." "Das weiß ich auch nicht", war

seine etwas verlegene Antwort. "Aber ich weiß es", antwortete ich ihm. "Du bist

nämlich gar kein Urbild, kein Original, sondern nur ein Abbild. Das Urbild ist das

höchste Gut, das wir Gott nennen. Weil Gott also absolut gut ist, kann der Mensch

als Abbild Gottes nicht ungut sein wollen. Wenn wir es aber dann doch gelegentlich

sind und dabei ertappt werden, bäumt sich dieses Abbild Gottes in uns so auf, dass

es sich bis ins Gesicht hinein zeigt: Wir werden rot und manchmal beginnen wir sogar

zu schwitzen".

"Ich möchte dir noch eine zweite Frage stellen", fuhr ich damals fort. "Möchtest du

ungeliebt sein? Möchtest du niemanden haben, der dich liebt?" Erschrocken erwiPEK-

Skript Europa und seine Lebenswerte / Seite 7

derte dieser Atheist auf meine Frage: "Das wäre ja die Hölle!" Meine sehr geehrte

Damen und Herren, ich frage Sie nun, woher kennt dieser Atheist die theologische

Definition dessen, was die Hölle ist. Woher weiß er das? Er weiß es, weil auch ein

Atheist Ebenbild Gottes ist und damit eine gott-menschliche Struktur aufweist.

Selbst ein so radikaler Denker wie Friedrich Nietzsche, der - wie ich meine - der ehrlichste

und damit aber auch zugleich der gefährlichste aller Atheisten war, der das

Christentum bis ins Mark hinein verletzt hat, hatte Stunden, in denen das Ebenbild

Gottes in ihm aufschrie, ja gleichsam aufjammerte. In einem seiner Gedichte beschreibt

er einmal eine solche Situation. Er vergleicht dort sein Leben mit einer

Wanderung durch trostloses Winterland. Der Refrain lautet: "Und über mir ziehen

die Raben zur Stadt, weh dem, der keine Heimat hat!" Einige Jahre später geht in

Turin ein Mann auf eine Pferdekutsche zu, um sein umnachtetes Haupt hilfesuchend

an den Kopf des Pferdes zu legen. Es ist der Dichter der Verse: "weh dem, der keine

Heimat hat". Da er nicht das Haupt voll Blut und Wunden kannte, suchte er sich

den Kopf eines Pferdes.

Ich meine, diese Szene ist eine erschütternde Blitzaufnahme der europäischen

Situation. Ich sage es noch einmal: Gerade in der gottesgestaltigen und

gottmenschlichen Struktur der menschlichen Person entdeckt der Mensch die

Gottesvorstellung. Dies zeigt sich zum Beispiel eben auch darin, daß ein SEDGenosse

intuitiv die Definition der Hölle kannte.

Was haben wir dabei zu tun? Nicht den Glauben auf das rein Religiöse zu reduzieren

- das ist immer unkatholisch -, sondern - um das biblische Bild von Salz zu verwenden

-, ihn (den Glauben) in die irdischen Wirklichkeiten hineinmengen, ohne ihn

zu vermischen. So wie Gottheit und Menschheit in Jesus Christus unvermischt sind,

so müssen wir den Glauben hineinmengen in unsere Gesellschaft, ohne ihn zu vermischen.

Der Wille zu einer rein religiösen Verwirklichung des Evangeliums unter Ausklammerung

des politischen, sozialen und kulturellen Raumes wird nicht der weltlichen

Verantwortung des Glaubens gerecht. Echte Glaubenspraxis, d.h. richtiges Handeln,

geht aus der Wahrheit hervor und um die muss gerungen werden. Wir sagen: Alle

Theorie ist grau. Praxis ohne Theorie ist gräulich. Es muss um die Wahrheit gerungen

werden. Es soll weniger dabei um unmittelbare Wirkung gehen. Wir sollen einfach

die Wahrheit zum Leuchten bringen. Die Wahrheit ist eine Macht; aber nur

dann, wenn man von ihr keine unmittelbare Wirkung verlangt."

PEK-Skript Europa und seine Lebenswerte / Seite 8

Hier liegt im Hinblick auf den sogenannten Reevangelisierungsprozess die Aufgabe

der Kirche in der Gegenwart. Die Kirche sollte deshalb zunächst einmal wirklich sie

selbst sein. Sie darf sich nicht einfach zu einem bloßen Mittel der Moralisierung

oder Ethisierung der Gesellschaft, wie sich das heute viele wünschen, instrumentalisieren

lassen. Ganz besonders darf sich die Kirche nicht selbst durch die Nützlichkeit

ihrer Sozialwerke rechtfertigen wollen. Je intensiver die Kirche das, was ihr

gleichsam zusätzlich hinzugegeben worden ist, anzielt, desto mehr wird sie gerade

darin versagen. Wir haben, so meine ich, dafür ausreichend Anschauungsmaterial.

Je mehr sich die Kirche vor allem als Institut sozialen Fortschritts definiert, desto

mehr trocknen die sozialen Berufungen aus, die Berufe des Dienens für Alte, Kranke

und Kinder, die doch in Blüte standen, als der Blick der Kirche noch wesentlich auf

Gott ausgerichtet war. Aus Erfahrung erkennen wir die Richtigkeit des Herrenwortes:

"Suchet zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit; dann wird euch alles

andere dazugegeben" (Mt 6, 33). Suchen wir jedoch zuerst das Dazugegebene, bekommen

wir es doch nicht und verlieren schließlich auch noch das Reich Gottes.

Zeitgenössische ungläubige Philosophen, wie etwa Max Horkheimer, haben den Versuch

von Theologen angeprangert, sich am Glaubenskern des Christentums vorbeizustehlen,

die Heiligste Dreifaltigkeit, den Himmel, die Hölle, die Engel, den Teufel

und die Erzählungen der Bibel unanstößig zu machen, indem sie ins rein Symbolische

zurückgestuft werden. Diese ungläubigen Philosophen sagen: Klammern Theologen

das Dogma aus, ist die Geltung ihrer Rede nichtig. Sie beugen sich dann jener

Furcht vor der Wahrheit, in der die geistige Verflachung der Gegenwart wurzelt.

So also kann man die Kirche und die Kirche die Welt nicht retten. Vielmehr muss sie

ihr Ureigenes tun, den Auftrag erfüllen, auf dem ihre Identität gründet: Gott verkünden

und sein Reich bekanntmachen! Gerade und nur so entsteht der geistige

Raum, in dem das Moralische und Ethische seine Existenz zurückgewinnen kann,

und zwar weit über den Kreis der Glaubenden hinaus. Ihre Verantwortung für die

Gesellschaft muss die Kirche in dem Sinne wahrnehmen, dass sie das Göttliche und

das daraus folgende Moralische einsichtig werden lässt. Sie muss überzeugen. Indem

sie Überzeugung schafft, öffnet sie den Raum für das, was ihr anvertraut ist

und immer nur über Verstand, Wille und Gefühl zugänglich gemacht werden kann.

Die Kirche muss dabei leidensbereit sein; nicht durch institutionelle Stärke, sondern

durch Zeugnis, durch Liebe, Leben und Leiden muss sie dem Göttlichen den Raum

bereiten und so der Gesellschaft helfen, ihre moralische Identität zu finden. Unsere

deutsche Sprache bringt dies sehr schön zum Ausdruck. Danach ist Leid nur ein anderer

Name für Liebe. Wenn ich jemand sehr gern mag, sage ich: "Ich mag dich leiPEK-

Skript Europa und seine Lebenswerte / Seite 9

den". Und wenn ich etwas sehr gerne habe, ist das meine Passion, meine Leidenschaft.

Das Ringen um die Reevangelisierung Europas ist in Zusammenhang mit der Überzeugung

des hl. Augustinus zu sehen, der in der Weltgeschichte den Kampf der

Selbstliebe bis hin zur Gottesverachtung und der Gottesliebe bis hin zur Selbstverachtung

sieht. Die Geschichte ist geprägt von der Auseinandersetzung zwischen

Liebe und der Unfähigkeit zu lieben, sprich von der Unfähigkeit zu leiden. Die Geschichte

ist geprägt von jener Verödung der Seelen und Herzen, die dort eintritt -

wie Kardinal Ratzinger einmal gesagt hat -, "wo der Mensch nur noch die quantifizierbaren

Werte überhaupt als Werte und als Wirklichkeiten anzuerkennen vermag.

Die Liebesfähigkeit, d.h. die Fähigkeit, auf das Unverfügbare in Geduld zu warten

und sich von ihm beschenken zu lassen, wird erstickt durch die schnellen Erfüllungen,

in denen ich auf niemanden angewiesen bin, aber auch nie aus mir heraustreten

muss und darum auch nie in mich hineinfinde. Diese Zerstörung der Liebesfähigkeit

gebiert die tödliche Langeweile. Sie ist die Vergiftung des Menschen." - Der

Mensch bringt sich eher durch tödliches Gähnen vor Langeweile um als durch

Stress. Deshalb sollte die Kirche auch in Gelassenheit und Vertrauen versuchen, sie

selbst zu bleiben und die Wahrheit zu verkünden, die in sich eine Kraft ist, die andere

ansteckt und verwandelt.

Ein russischer Verwaltungsbeamter aus der Zarenzeit zeigte sich erstaunt über die

Weigerung eines orthodoxen Missionspriesters, die Heiden eiligst und schnell zu

taufen. Der Priester wies alle administrativen und insbesondere statistischen Besorgnisse

zurück und ließ die Ungläubigen in sehr bescheidenen Diensten die Liebe

Christi fühlen: "Sie sollen nur einmal anfangen, den Saum des Kleides Christi zu berühren",

sagte er, "sie sollen seine unermessliche Liebe spüren, und dann wird der

Herr sie selbst verzaubern". Nicht wir können Glauben weitergeben, das macht Gott

selbst. Wir müssen diesen Gott aber berührbar machen, so dass die Menschen den

Saum seines Kleides zu packen bekommen, und wenn es nur von hinten ist. Dann

wird er selbst die Herzen und die Gesichter der Menschen verzaubern.

 

+ Joachim Kardinal Meisner

Erzbischof von Köln

 

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