Jump to content

Lesekreis "Jesus von Nazareth"


Justin Cognito

Recommended Posts

Justin Cognito

[Abschweifung an]

Ich hab gewusst dass mir der Name Hermann Detering bekannt vorkommt, jetzt bin ich draufgekommen wo her: von ihm stammt eine neue, viel gelobte Biographie über Bob Dylan, die heuer bei Reclam erschienen ist. Die interessiert mich wirklich mächtig, sogar mehr als "Der gefälschte Paulus".

[Abschweifung aus]

 

Und auch bei den im Link gannten Radikalkritikern bin ich über einen bekannten Namen gestolpert: Karl Kautsky ist mir natürlich ein Begriff, wenngleich ich ihn nicht mit dem Neuen Testament in Verbindung gebracht hätte. Das sich gleich auf der Hauptseite ein Zitat von Rudolf Steiner findet, macht die Sache sogar noch bunter. Hier scheint wirklich aus einer eine leicht kruden Mischung ein sprachlich durchaus zugängliche Süppchen gekocht zu werden - find ich jetzt eigentlich wirklich ganz interessant.

bearbeitet von Justin Cognito
Link zu diesem Kommentar
Auf anderen Seiten teilen

Mal ne Zwischenfrage, nachdem ihr das Buch gelesen habt: Habt ihr Highlight-Abschnitte, Passagen, die euch besonders viel sagen? Mir z.B. bedeuten die Auseinandersetzung mit Neusner und die neue Sicht auf Christus als Sabbat sehr viel.

bearbeitet von Steffen
Link zu diesem Kommentar
Auf anderen Seiten teilen

Radikal bedeutet in diesem Fall, nicht die "Hermeneutik des Glaubens" vorauszusetzen, sondern die "Hermeneutik des Argwohns". Radikal bedeutet, dass man die Grundlagen der historisch-kritischen Exegese nimmt, und diese ohne Ausnahme anwendet, ohne sich vom Ergebnis beeinflussen zu lassen. D. h., wenn das Ergebnis wäre, dass Jesus nicht Gott war oder es keinen Jesus gab, dann wird das akzeptiert. Für Theologen ist das ziemlich radikal ... Es wird eben kein Glauben vorausgesetzt, sondern nur eine "Liebe zur Wahrheit", wohin immer dies auch einen führen wird.

 

Aber Wahrheit ist immer nur das, was man dafür hält. Wenn man die Bibeltexte streng nach naturwissenschaftlichen Maßstäben untersucht, weil man diese für wahr hält, bleiben natürlich nur weitgehend Legenden übrig (wie du es in deinem Beitrag ja auch weiter ausgeführt hast). Wenn ich davon überzeugt bin, dass Jesus antiautoritär war, dann halte ich alle Bibelstellen, die auf autoritäre Strukturen hinweisen für Verfälschugnen durch den Autor des Textes. Wenn ich Paulus nicht zutraue, dass er Frauen nicht erlaubte zu predigen, dann halte ich die entsprechenden Stellen für nachträgliche Fälschungen oder Änderungen. Wenn ich Esoteriker bin, halte ich die biblischen Wunder für wahr, aber sehe z.B. die Gottessohnschaft in einem ganz anderen, einem allgemeineren Kontext.

Meiner Meinung nach kann man in so einen Text gar nicht nach allgemeingültigen Wahrheiten suchen, ohne von vorab bestimmte Axiome festzulegen.

 

In gewisser Weise vergleichbar (und sehr interessant) ist es, ältere Geschichtsbücher zu lesen. Die geschichtlichen Interpretationen sagen meist mehr über die Denkweise des Historikers und seine Zeit aus, als über ihre eigentliche Thematik.

Link zu diesem Kommentar
Auf anderen Seiten teilen

Radikal bedeutet in diesem Fall, nicht die "Hermeneutik des Glaubens" vorauszusetzen, sondern die "Hermeneutik des Argwohns". Radikal bedeutet, dass man die Grundlagen der historisch-kritischen Exegese nimmt, und diese ohne Ausnahme anwendet, ohne sich vom Ergebnis beeinflussen zu lassen. D. h., wenn das Ergebnis wäre, dass Jesus nicht Gott war oder es keinen Jesus gab, dann wird das akzeptiert. Für Theologen ist das ziemlich radikal ... Es wird eben kein Glauben vorausgesetzt, sondern nur eine "Liebe zur Wahrheit", wohin immer dies auch einen führen wird.

 

Aber Wahrheit ist immer nur das, was man dafür hält.

 

Wenn dem so wäre, dann würden wir in einem ganz anderen Universum leben.

 

Wenn man die Bibeltexte streng nach naturwissenschaftlichen Maßstäben untersucht, weil man diese für wahr hält, bleiben natürlich nur weitgehend Legenden übrig (wie du es in deinem Beitrag ja auch weiter ausgeführt hast).

 

Vielleicht weil es tatsächlich Legenden sind?

 

Wenn ich davon überzeugt bin, dass Jesus antiautoritär war, dann halte ich alle Bibelstellen, die auf autoritäre Strukturen hinweisen für Verfälschugnen durch den Autor des Textes. Wenn ich Paulus nicht zutraue, dass er Frauen nicht erlaubte zu predigen, dann halte ich die entsprechenden Stellen für nachträgliche Fälschungen oder Änderungen. Wenn ich Esoteriker bin, halte ich die biblischen Wunder für wahr, aber sehe z.B. die Gottessohnschaft in einem ganz anderen, einem allgemeineren Kontext.

Meiner Meinung nach kann man in so einen Text gar nicht nach allgemeingültigen Wahrheiten suchen, ohne von vorab bestimmte Axiome festzulegen.

 

In gewisser Weise vergleichbar (und sehr interessant) ist es, ältere Geschichtsbücher zu lesen. Die geschichtlichen Interpretationen sagen meist mehr über die Denkweise des Historikers und seine Zeit aus, als über ihre eigentliche Thematik.

 

Das ist genau der Einwand, den Robert M. Price in "Deconstructing Jesus" geäußert hat: Jede Zeit, jeder Autor hat "seinen eigenen Jesus". Eigentlich ist Jesus nicht viel mehr als eine weiße Leinwand, auf die jeder seine eigenen Vorstellungen projiziert. Wenn etwa Heiner Geißler ein Buch darüber schreibt, was Jesus heute gesagt hätte, so hätte Jesus "rein zufällig" genau das gesagt, was der Meinung von Heiner Geißler entspricht. Denselben Einwand kann man auch gegen das auch von Ratzinger äußern: Wenn man etwas über Jesus wissen will, ist das Buch unbrauchbar. Wenn man wissen will, wie sich Ratzinger so "seinen" Jesus denkt, dann kann man es lesen - über Jesus wird man nichts erfahren, über das Denken von Herrn Ratzinger jede Menge.

 

Man kann daher kein Jesusbild konstruieren, weil das nur Projektion wäre, man muss vielmehr Jesus dekonstruieren, einfach, weil man keine andere Wahl hat, oder in Beliebigkeit versinkt. Jesus kann man alles unterschieben, weil tote Legenden sich niemals wehren. Genauer gesagt: Damit Jesus als Projektionsfläche taugt, muss er eine Legende sein, sonst wäre er für diese Zwecke unbrauchbar. Schon das frühe Jesusbild des zweiten Jahrhunderts, auch das Bild der Evangelisten, ist eine solche Projektion, "Zufällig" sagt Jesus in den Evangelien immer genau das, was gerade in den Gemeinden des 2. Jahrhunderts Streitpunkt ist. Wenn man also wissen will, worüber sich die Gemeinden des 2. Jahrhunderts gestritten haben, muss man nur die Evangelien aufschlagen, jeder Evangelist konstruiert sich seinen Jesus so, dass er den gerade schwelenden Streit entschieden hätte. Dass man in den Worten von Jesus den Streit des 2. Jahrhunderts wiedergespiegelt sieht, ist auch ein starkes Argument dafür, dass die Evangelien erst später entstanden sind (neben einigen anderen, wie etwa, dass man vor 150 n. Chr. keine Zitate von Jesus findet). Ob Jesus eine historische Person war oder nicht, ist eigentlich eine belanglose Nebensächlichkeit, wichtig ist nur, für welche Zwecke man ihn gerade vereinnahmen kann - ob man nun Geißler, Ratzinger oder Markus, Lukas, Matthäus oder Johannes heißt, jeder spannt Jesus vor seinen Karren, als das Zugpferd schlechthin.

 

Über den "wahren Jesus", wenn es den überhaupt je gegeben hat, erfährt man so nichts. In "The Incredible Shrinking Son of Man" greift Price dieses Thema auf: Je mehr man über die Evangelien erfährt, umso mehr schrumpft das, was man über Jesus zu wissen glaubt, bis nichts mehr übrig bleibt als ein jüdischer Wanderprediger, der das nahe Ende der Welt verkündet hat, wie hunderte andere zu seiner Zeit auch, und den vielleicht die Römer umgebracht haben, aber vielleicht auch seine Jünger.

 

Was bleibt von Jesus? Praktisch nichts, außer etwas, was so oder so eine Legende ist. 70-80% von dem, was Jesus angeblich gesagt haben soll, findet man entweder im alten Testament bereits gesagt, oder von kynischen Wanderphilosophen verbreitet, im grunde genommen ist Jesus der unoriginellste Prediger, der je gelebt hat: Er sagt und meint fast immer nur das, was andere sagen oder meinen. Hinter diesen Worten ist der "eigentliche" Jesus praktisch unsichtbar, er schrumpft, je genauer man ihn betrachtet, bis nichts mehr übrig ist außer dem, was andere gerne in ihm sehen wollen.

 

Auch seine Wunder sind nur eine Rekapitulation von Legenden anderer Personen, die exakt imitiert (bzw.: Es werden ihm die Wunder anderer untergeschoben, wie auch seine Reden). Nur eines von vielen Beispielen: Johannes erzählt im Grunde bei allen seinen Wundern nur die Geschichten aus einer antiken Wundersammlung nochmal, diesmal auf Jesus bezogen. Johannes tut dies in derselben Reihenfolge wie in der antiken Sammlung, er lässt allerdings ein Wunder aus, vergisst dies aber und übernimmt die Zählung der Sammlung, so dass man genau sagen kann, welches Wunder Jesus noch vollbracht hätte, wenn Johannes das eine nicht weggelassen hätte, und wo er es eingefügt hätte, weil seine Nummerierung der Wunder eine Lücke aufweist.

 

Jesus ist die ideale Propagandafigur, und das ist sein eigentlicher Daseinszweck - er dient bloß der Illustration der Gedankengänge der Evangelisten. Deswegen erfährt man über Jesus auch nicht genug, um aus den ganzen Berichten so etwas wie eine Biographie rekonstruieren zu können, die Evangelisten sind an Jesus nicht interessiert, sondern nur an dem, was Jesus gesagt hätte, wenn er so gedacht hätte wie der Evangelist. Heiner Geißler macht nur das, was die Evangelisten auch getan haben. Die Evangelisten haben nicht viel von den Pharisäern gehalten, also legt sich ihr Jesus mit den Pharisäern an. Die Evangelisten hätten gerne einen weisen Jesus, also gibt ihr Jesus die Weisheiten der kynischen Philosophen wieder. Er wird zwar nichts davon gesagt haben, aber wenn er so gewesen wäre, wie ihn sich die Evangelisten gewünscht haben, dann hätte er dies "ganz sicher" so gesagt, wie es geschrieben steht.

 

Das, in aller Kürze, ist der Grund dafür, warum die Radikalkritiker von einer "Hermeneutik des Verdachts" ausgehen. Der Verdacht ist, dass es sich um eine Legende handelt, die zu bestimmten Zwecken benutzt wurde - und wird, noch heute. Wenn Du Kommunist bist, ist Jesus der erste Kommunist, wenn Du Feminist bist, ist Jesus der erste Feminist, wenn Du eine Kirche gründen willst, ist Jesus Dein Gründer der Kirche, wie Du sie gerne hättest. Jeder hat sich Jesus so zurechtgeknetet, wie er ihn gerade braucht. Das ist der Verdacht, und Verdachtsgründe gibt es mehr als genug. Für jedes Argument, was von Jesus denn nun "authentisch" ist, gibt es ebenso viele Gegengründe.

 

Nur deswegen war Jesus so einflussreich, weil er für jeden das war, was derjenige sich gerade gewünscht hat. Nur deswegen hat er weitergelebt, er konnte nicht sterben, weil er für jeden Zweck gut war, deswegen musste man diese blutleere Figur am Leben erhalten, ihr immer wieder neues Leben einhauchen. Jesus ist so ziemlich die zeitgeistlichste Figur der Weltgeschichte, in ihr lebt der Geist jeder Zeit, die sich mit ihm beschäftigt hat, weiter.

Link zu diesem Kommentar
Auf anderen Seiten teilen

[Abschweifung an]

Ich hab gewusst dass mir der Name Hermann Detering bekannt vorkommt, jetzt bin ich draufgekommen wo her: von ihm stammt eine neue, viel gelobte Biographie über Bob Dylan, die heuer bei Reclam erschienen ist. Die interessiert mich wirklich mächtig, sogar mehr als "Der gefälschte Paulus".

[Abschweifung aus]

 

Da verwechselst Du aber Hermann Detering mit Heinrich Detering.

Link zu diesem Kommentar
Auf anderen Seiten teilen

Es wäre spannend, darüber nachzudenken, ob eine Weiterführung dieses Ansatzes langfristig eine wirklich ökumenische Perspektive eröffnen könnte: Kirche nicht aus der Historie, sondern aus der Schrift verstanden...

 

:angry:

Link zu diesem Kommentar
Auf anderen Seiten teilen

Hallo Volker,

 

Denselben Einwand kann man auch gegen das auch von Ratzinger äußern: Wenn man etwas über Jesus wissen will, ist das Buch unbrauchbar.

 

Ratzingers Bibelauslegung ist, wie ich es bisher sehe, weitgehend evangelikal(!). Ausgehend von den entsprechenden Prämissen legt er die Bibel aus. Du hälst eine Auslegung, die unseren heutigen naturwissenschaftlichen Stand als Basis nimmt, für richtig und kommst damit natürlich zu ganz anderen Schlüssen. Deine Behauptung, dass das Jesus-Buch zuerst einmal etwas über den Papst aussagt ist richtig. Genauso würde aber ein Jesus-Buch von dir in erster Linie etwas über dich und deine Denkweise aussagen. Das gilt nicht nur für Jesus-Bücher, sondern für Bücher über jedes beliebige Thema.

Link zu diesem Kommentar
Auf anderen Seiten teilen

Hallo Volker,

 

Denselben Einwand kann man auch gegen das auch von Ratzinger äußern: Wenn man etwas über Jesus wissen will, ist das Buch unbrauchbar.

 

Ratzingers Bibelauslegung ist, wie ich es bisher sehe, weitgehend evangelikal(!). Ausgehend von den entsprechenden Prämissen legt er die Bibel aus. Du hälst eine Auslegung, die unseren heutigen naturwissenschaftlichen Stand als Basis nimmt, für richtig und kommst damit natürlich zu ganz anderen Schlüssen. Deine Behauptung, dass das Jesus-Buch zuerst einmal etwas über den Papst aussagt ist richtig. Genauso würde aber ein Jesus-Buch von dir in erster Linie etwas über dich und deine Denkweise aussagen. Das gilt nicht nur für Jesus-Bücher, sondern für Bücher über jedes beliebige Thema.

 

Außer, versteht sich, Bücher über naturwissenschaftliche Themen.

 

Die Frage ist nicht, ob ein Buch über Jesus in erster Line etwas über den Autor aussagen, sondern wie viel das Buch über Jesus und wie viel es über den Autor und seine Einflüsse aussagt. Das gilt umso mehr für katholische Autoren, weil Jesus ja eine historische Person sein soll. Auch in einer Biographie über Cäsar sollten Fakten drin stehen, wenn man davon absieht, und nur ausdrücken will, wie man selber denkt, dann kann man auch gleich über Harry Potter schreiben, das macht dann nämlich keinen Unterschied.

 

Es ist sehr evangelisch gedacht, ein Buch über Jesus in erster Linie als eine Selbstauskunft des Autors zu verstehen. Aber von jemanden, der wie selbstverständlich mit dem Anspruch auftritt, die Wahrheit über etwas zu erzählen, ist das ein wenig mager.

 

Ich will das mal vergleichen: Ich kann eine romanhafte Biographie über eine Person schreiben. Ich kann aber nicht ankündigen, ich würde "die Wahrheit" über die Person schreiben und das Ganze wie einen Roman verfassen, das wäre nämlich gelogen. Gut, Ratzinger tut das nicht, er sagt auch nicht ausdrücklich, dass er einen Roman schreibt. Das Lustige aber ist, dass sich z. B. die Kirche über das Buch "Da VinciCode" sehr aufgeregt und echauffiert hat, weil es Jesus Leben als Romanvorlage verwendet. Aber, und das ist der Punkt: Dan Brown hat in seinen Büchern nichts anderes gemacht als die Evangelisten auch. Ich kann aber nicht Dan Brown kritisieren und dann dasselbe machen - Dan Brown hat seinen Roman wenigstens als Roman veröffentlicht, schon das Genre besagt, um was für ein Buch es sich handelt. Da kann dann auch der Autor nichts dafür, wenn einige meinen, das sei eine Tatsachenbeschreibung. Und natürlich, innerhalb seines fiktiven Rahmens, tut jeder Roman so, als ob er wahre Ereignisse beschreibt, und niemand nimmt einem Autor das übel. Übel nehmen könnte man dem Autor das aber, wenn er das unter der Rubrik "Sachbuch" veröffentlicht - und genau das haben entweder die Evangelisten getan, oder die Kirche, und sie lebt ziemlich gut davon, die Evangelien als eine Art Sachbuch zu verstehen, in dem vielleicht nicht alle Fakten stimmen, aber der Kern doch wahr ist.

 

Wobei man weniger den Evangelisten einen Vorwurf machen kann - sowohl bei Markus als auch bei Johannes wird eigentlich ziemlich deutlich, dass es sich um einen Roman ala Dan Brown handelt (und das in Romanen auch Fakten auftauchen, wird ja wohl niemand ernsthaft bestreiten wollen, oder?). Aber die Kirche hat aus den Romanen ein Sachbuch gemacht, es aber selbst wie einen Roman behandelt - Sachbuch war es das nur für die breite, unwissende Masse. Aber auf Basis eines Romans, der als Roman ausgewiesen wird, kann man keine Kirche gründen und keine Ansprüche erheben. Und es ist diese fortgesetzte Unehrlichkeit, die mich ärgert. Theologen wissen ja schon seit langem, dass man die Evangelien wie Romane von Dan Brown behandeln muss, aber nach außen tun sie es nicht. Und bei Romanen gilt natürlich die "Hermeneutik des Verdachts". Ich würde bei Dan Brown nichts als gegeben hinnehme, es sei denn, ich hätte mehrere unabhängige Quellen, die bestätigen, dass es sich um eine Tatsache handelt, solange es diese Bestätigung nicht gibt, behandle ich es als Fiktion.

 

Wie gesagt, das richtet sich deutlich mehr gegen die katholische als die evangelische Kirche, insofern bist Du nicht der richtige Ansprechpartner für meine Klage.

Link zu diesem Kommentar
Auf anderen Seiten teilen

Hallo Volker,

 

ich finde der Vergleich zwischen dem Papst-Buch und "Da Vinci-Code" passt überhaupt nicht. Ratzinger nimmt die Evangelien als Vorlage für sein Buch und behandelt sie dabei als vertrauenswürdige Quellen. Er geht dabei sehr ähnlich wie ein Historiker vor, der eine Abhandlung über ein bestimmtes Thema schreibt und dabei die ihm zur Verfügung stehenden Quellen als glaubwürdig einstuft.

Die Theorien des "Da Vinci-Code" basieren nicht auf den Evangelien.

Link zu diesem Kommentar
Auf anderen Seiten teilen

Hallo Volker,

 

ich finde der Vergleich zwischen dem Papst-Buch und "Da Vinci-Code" passt überhaupt nicht. Ratzinger nimmt die Evangelien als Vorlage für sein Buch und behandelt sie dabei als vertrauenswürdige Quellen. Er geht dabei sehr ähnlich wie ein Historiker vor, der eine Abhandlung über ein bestimmtes Thema schreibt und dabei die ihm zur Verfügung stehenden Quellen als glaubwürdig einstuft.

Die Theorien des "Da Vinci-Code" basieren nicht auf den Evangelien.

 

Tja, es gibt eine ganze Menge Evangelien, und der Herr Brown (bzw. die, auf denen sein Buch basiert) haben eben andere Evangelien ausgewählt und anderen Quellen vertraut.

 

Der Punkt ist ja, dass es außer den Evangelien und eventuell noch Paulus keine weiteren Quellen gibt, anhand derer man die Zuverlässigkeit der Evangelien beurteilen kann. Man tut sich ja schon schwer damit, überhaupt nicht gefälschte Quellen zu finden, in denen der Name Jesus mal erwähnt wird - und wenn, dann sind diese 70 Jahre und später nach seinem Tode geschrieben worden, aber nichts zu seinen Lebzeiten (und das aus einem Jahrhundert und einer Gegend, aus dem wir mehr Schriftgut haben als aus fast allen Jahrhunderten des Mittelalters!).

 

Man kann rein durch die Auswahl der Evangelien schon eine ungeheure Menge am Jesusbild drehen und ändern. Wenn man z. B. das Thomas-Evangelium nimmt, dann ist die ganze apostolische Sukzession auf Sand gebaut (weil nur der Apostel Thomas das eigentliche und wahre Geheimnis von Jesus kennt). Natürlich kann man nicht von Ratzinger erwarten, dass er das tut.

 

Mir ist natürlich auch klar, dass einige der Dinge, die Dan Brown benutzt, erfunden sind. Aber das liegt nur daran, dass einige der Erfindungen recht neu sind, und dass sich ein Heer von Kritikern darauf gestürzt hat. Das war damals bei den Evangelien nicht der Fall, wenn es also (teilweise) auf Erfindungen beruht, dann dürfte das niemand mitbekommen haben. Damals musste man es einfach glauben, wenn erzählt wird, dass Herodes alle Erstgeborenen hat umbringen lassen. Heute wissen wir, dass dies ein Märchen war, erzählt zu dem Zweck, eine "Prophezeiung" aus dem AT wahr werden zu lassen. Das ist ja ein Stilmittel der Evangelien: Man nimmt eine Textstelle aus dem AT, konstruiert eine Geschichte mit Jesus drumherum, um dann zu erkären, dass sich damit eine Prophezeiung des AT erfüllt habe. Wenn so eine "vertrauenswürdige Quelle" aussieht, dann kann ich auch Harry Potter als Quelle für das englische Landleben nehmen.

 

Die ganze "Zuverlässigkeit" der Evangelien stützt sich außerdem darauf, dass man jahrhundertelang alle gegensprechenden Schriften vernichtet hat und für ihren Besitz die Todesstrafe angedroht war. Keine Wahrheit hat es nötig, so verteidigt zu werden.

Link zu diesem Kommentar
Auf anderen Seiten teilen

Tja, es gibt eine ganze Menge Evangelien, und der Herr Brown (bzw. die, auf denen sein Buch basiert) haben eben andere Evangelien ausgewählt und anderen Quellen vertraut.

 

Welche denn? Ich habe alle erhaltengebliebenen Apokryphen. Mir ist da bisher nichts aufgefallen, was irgendwie nach "Da Vinci-Code" klang.

 

Wenn man z. B. das Thomas-Evangelium nimmt, dann ist die ganze apostolische Sukzession auf Sand gebaut

 

Dazu brauchst du kein Thomas-Evangelium. Die Apost.Sukzession ist mit den die vier kanonisierten Evangelien nicht begründbar. Sie wird von katholischer Seite auch in erster Linie mit Teilen der Apostelgeschichte und einigen Paulus-Briefe begründet. Davon ausgehend wird dann auf die Evangelien verwiesen.

 

 

Natürlich kann man nicht von Ratzinger erwarten, dass er das tut.

 

Ich habe das Buch noch nicht ganz gelesen, aber ich wette, dass darin die sog. Apost. Sukzession nicht erwähnt wird, oder bestenfalls kurz am Rande. Dafür ist der Papst ein zu seriöser Theologe.

 

Hast du das Buch überhaupt gelesen?

Link zu diesem Kommentar
Auf anderen Seiten teilen

Justin Cognito
Es ist sehr evangelisch gedacht, ein Buch über Jesus in erster Linie als eine Selbstauskunft des Autors zu verstehen. Aber von jemanden, der wie selbstverständlich mit dem Anspruch auftritt, die Wahrheit über etwas zu erzählen, ist das ein wenig mager.

 

Lies nocheinmal Seite 22 [3].

 

Ich will das mal vergleichen: Ich kann eine romanhafte Biographie über eine Person schreiben. Ich kann aber nicht ankündigen, ich würde "die Wahrheit" über die Person schreiben und das Ganze wie einen Roman verfassen, das wäre nämlich gelogen. Gut, Ratzinger tut das nicht, er sagt auch nicht ausdrücklich, dass er einen Roman schreibt. Das Lustige aber ist, dass sich z. B. die Kirche über das Buch "Da VinciCode" sehr aufgeregt und echauffiert hat, weil es Jesus Leben als Romanvorlage verwendet. Aber, und das ist der Punkt: Dan Brown hat in seinen Büchern nichts anderes gemacht als die Evangelisten auch. Ich kann aber nicht Dan Brown kritisieren und dann dasselbe machen - Dan Brown hat seinen Roman wenigstens als Roman veröffentlicht, schon das Genre besagt, um was für ein Buch es sich handelt. Da kann dann auch der Autor nichts dafür, wenn einige meinen, das sei eine Tatsachenbeschreibung. Und natürlich, innerhalb seines fiktiven Rahmens, tut jeder Roman so, als ob er wahre Ereignisse beschreibt, und niemand nimmt einem Autor das übel. Übel nehmen könnte man dem Autor das aber, wenn er das unter der Rubrik "Sachbuch" veröffentlicht - und genau das haben entweder die Evangelisten getan, oder die Kirche, und sie lebt ziemlich gut davon, die Evangelien als eine Art Sachbuch zu verstehen, in dem vielleicht nicht alle Fakten stimmen, aber der Kern doch wahr ist.

 

Also warum du die Evangelien als Romane einstufst, müsstest du schon näher erläutern. Selbst wenn man sie für historisch fragwürdig hält, kommt man wohl nicht umhin in ihnen Glaubensgeschichten zu sehen. Anders gesagt: Es geht um Selbstmitteilung, nicht um das Erzählen von Geschichten.

bearbeitet von Justin Cognito
Link zu diesem Kommentar
Auf anderen Seiten teilen

Justin Cognito
Wie machen wir mit dem Leseplan weiter? Diese Woche ist dann das erste Kapitel "Die Taufe" dran, nehme ich an?

 

Sobald Carsten dazu kommt, gehts weiter. In der Urlaubszeit sind Zeitpläne nicht so streng einzuhalten .... Ich freu mich schon wirklich in den Text hinein zu gehen.

Link zu diesem Kommentar
Auf anderen Seiten teilen

Justin Cognito

[Abschweifung an]

Ich hab gewusst dass mir der Name Hermann Detering bekannt vorkommt, jetzt bin ich draufgekommen wo her: von ihm stammt eine neue, viel gelobte Biographie über Bob Dylan, die heuer bei Reclam erschienen ist. Die interessiert mich wirklich mächtig, sogar mehr als "Der gefälschte Paulus".

[Abschweifung aus]

 

Da verwechselst Du aber Hermann Detering mit Heinrich Detering.

 

Stimmt.

Link zu diesem Kommentar
Auf anderen Seiten teilen

Also warum du die Evangelien als Romane einstufst, müsstest du schon näher erläutern. Selbst wenn man sie für historisch fragwürdig hält, kommt man wohl nicht umhin in ihnen Glaubensgeschichten zu sehen. Anders gesagt: Es geht um Selbstmitteilung, nicht um das Erzählen von Geschichten.

 

Na, es wird aber auch eine Geschichte erzählt, die für ziemlich bare Münze genommen wird. Nirgendwo in den Evangelien wird etwas von einer "Selbstmitteilung" erzählt, sondern darum, dass eine wahre Geschichte erzählt wird. Und so ist es auch überwiegend aufgefasst worden, heute zieht man sich natürlich langsam davon zurück.

 

Ob es sich um einen Roman handelt oder nicht kann man übrigens schon an der Form unterscheiden. Roman ist eine Literaturgattung. Und woran erkennt man nun mit Sicherheit, dass es sich um einen Roman handelt? An der Existenz des allwissenden Autors. In einem Roman weiß der Autor die geheimsten Dinge, also die Gedanken einer Person, oder was sie getan hat, als niemand zusah. Dabei erzählt der Autor nicht, woher er das weiß, er weiß es eben, weil er als allwissendes und allessehendes Auge alle Handlungsdetails kennt - was ja auch kein Wunder ist, hat er sich doch die Handlung ausgedacht. Er muss daher nie rechtfertigen, woher er etwas weiß.

 

Und das finden wir beispielsweise beim Markusevangelium an diversen Stellen. Beispielsweise bei Gethsemane, wo Jesus betet, als alle schlafen. Niemand außer dem "allwissenden Autor" konnte wissen, was Jesus da gebetet hat, denn der Autor hat sehr viel Wert auf die Feststellung gelegt, dass alle Jünger schliefen und niemand Jesus hören konnte. Er erklärt auch nicht, woher er das weiß. Wozu auch? Er weiß es, weil er es sich ausgedacht hat.

 

Dann wird das beim (echten) Ende des Markusevangeliums deutlich: Die Frauen laufen vom leeren Grab weg und erzählen niemandem davon. Nun, wenn Markus keine der Frauen war - was man ausschließen kann - kann er es nicht wissen, was am Grab geschah. Entweder, er hat über das Grab gelogen, oder darüber, dass die Frauen das niemandem erzählt haben. Nur als allwissender Autor konnte er die Geschehnisse kennen.

 

Das Motiv hinter diesem unerwarteten Ende ist natürlich sehr durchsichtig, denn dumm waren die Menschen damals auch nicht: Wenn es dieses Grab wirklich gegeben hätte, dann hätten die ersten Christen ganz sicher dieses leere Grab verehrt. Aber das Grab und seine Lage waren immer unbekannt, wie erklärt man dieses Faktum? Ganz einfach dadurch, dass niemand verraten hat, wo das Grab liegt. Und dann wird die Geschichte plötzlich plausibel: Es gab kein leeres Grab (Paulus wusste nichts davon), sondern dies ist eine Erfindung von Markus.

 

Für die anderen Evangelisten war das natürlich sehr unbefriedigend, und so mussten sie in dieser Hinsicht Markus verbessern. Ja, man hat schließlich das Markusevangelium selbst noch verbessert und ein längeres Ende hinzugefälscht. Markus hat mit den Lesern gespielt, und man kann fast sein Augenzwinkern spüren, wenn man das liest.

 

Derlei Dinge machen aus dem Evangelium einen Roman - gut ausgedacht, aber eben streckenweise ausgedacht, wie es Dan Brown auch gemacht hat. Daran ist bei Dan Brown auch nichts zu meckern. Auch Markus macht im Grunde genommen deutlich, dass er sich bestimmte Dinge ausgedacht hat - nur haben die ersten Christen damals das nicht bemerkt, und vor allem haben die anderen Evangelisten das auch durchkreuzt.

Link zu diesem Kommentar
Auf anderen Seiten teilen

Hallo, hier hat sich ja richtig was getan! Bin seit gestern aus dem Urlaub zurück und habe heute meine Hausarbeit abgeschickt. Jetzt habe ich den Kopf frei. Ich werde morge in aller Ruhe erst einmal den bisherigen Teil hier lesen, und mich dann sofort an das Kapitel Taufe heranmachen. Ich habe es vor ein paar Wochen schon einmal gelesen, ich hoffe, dass ich schnell wieder reinkommen - aber jetzt bin ich also ganz uneingeschränkt dabei (hoffentlcih).

bearbeitet von Carsten137
Link zu diesem Kommentar
Auf anderen Seiten teilen

Na, es wird aber auch eine Geschichte erzählt, die für ziemlich bare Münze genommen wird. Nirgendwo in den Evangelien wird etwas von einer "Selbstmitteilung" erzählt, sondern darum, dass eine wahre Geschichte erzählt wird. Und so ist es auch überwiegend aufgefasst worden, heute zieht man sich natürlich langsam davon zurück.

 

Antike Texte haben auch ihren Sinn, den du more geometrico abstreiten möchtest. In HP VII thread hast du dich als HP-Leser geoutet, und indirekt zugesichert, dass du das Buch als gelungene oder nicht gelungene - Fiktion gelesen hast. Niemand hat von dir erwartet, dass du die historische Wahrscheinlichkeit der Erzählung in Frage stellst. Das wäre non-sense und die Foranten hier hätten nur gelacht. Du hast als zeitgenössischer Leser gehandelt.

 

Jetzt versuchst du antike Texte aus deinem Lehrstuhl für angewandte Kritik zu beurteilen. Du machst aber hier einen historischen Fehler, besser einen historizistischen Fehler, d.h. desjenigen, der alles nach dem heutigen Wissen beurteilt, ohne sich wirklich um den historischen Kontext zu kümmern. Die Geschichte ist Vergangenheit, weil sie eben vergangen ist und nach 2000 Jahren soll literarische Schöpfungen mit den Methoden beurteilt werden, die damals geläufig und üblich waren. Romane zu dieser Zeit waren nur „Liebeserzählungen“ (Joseph und Aseneth zB). Im NT finde ich diese Gattung überhaupt nicht.

 

Antike Texte sind keine moderne Geschichtsschreibung - und abgesehen von den strenggläubigen Christen würde keiner das dir strittig machen. Lukas ist das einzige Evangelium, das die Kriterien der antiken Geschichtsschreibung zu erfüllen versucht, indem es von Augenzeugenschaft redet (Lukas 1,1ff). Aber pass auf: kein Werk der Antike hat den Anspruch, die historische Wahrheit der Fakten zu verteidigen. Augenzeugenschaft ist nur ein literarisch-historiographischer Topos, um dem Leser kundzutun, das was man erzählt, keine Erfindung (plasmata) ist. Das bedeutet gar nicht, dass er die exakte "Wahrheit" erzählt, sondern dass er "glaubt", daß dies die Wahrheit ist. Wenn du ein bisschen von Polybius, aber auch aus der früheren Geschichtsschreibung von Herodotus liest, merkst du, dass sie die Geschichte erzählen, wie sie sie "emp-finden", nicht wie sie wirklich geschehen ist. Für sie ist die Geschichte immer ein Beispiel der Tugend, des tugendhaften Handelns, der ruhmreichen Taten etc. Was sie erzählen, kann heute nicht als „Histoire“ gelten, ist eine Art von Bekenntnis.

 

So sind auch Teile der Evangelien: Bekenntnis über und von etwas, was man geglaubt hat, das geschehen ist. Nichts anderes. Sie verkünden eine (ihre) Wahrheit, weil sie andere überzeugen wollen, dass ihr Jesus von Nazareth keine historische Figur ist, simple gesagt - eine vergangene Figur, sie lebt in ihrer Erinnerung, sie ist ihre Erinnerung.

 

Ob es sich um einen Roman handelt oder nicht kann man übrigens schon an der Form unterscheiden. Roman ist eine Literaturgattung. Und woran erkennt man nun mit Sicherheit, dass es sich um einen Roman handelt? An der Existenz des allwissenden Autors. In einem Roman weiß der Autor die geheimsten Dinge, also die Gedanken einer Person, oder was sie getan hat, als niemand zusah. Dabei erzählt der Autor nicht, woher er das weiß, er weiß es eben, weil er als allwissendes und allessehendes Auge alle Handlungsdetails kennt - was ja auch kein Wunder ist, hat er sich doch die Handlung ausgedacht. Er muss daher nie rechtfertigen, woher er etwas weiß.

 

Die Sache ist nicht so einfach, wie du sie „empfindest“. Welcher ist der „Autor“ der Evangelien? Ich habe den Eindruck, dass du die Evangelien wie ein christlicher Fundamentalist liest. Abgesehen von Paulus gibt es keinen einzigen „Autor“ in NT, sondern eine Menge an Redaktoren, die Dicta, Traditionen, Stücken von älterer, jüngerer und zeitgenossischer Literatur verschmelzen, redigieren, verändern und schließlich auch zensieren. Das ist keineswegs mit Frau Rowlings Roman vergleichbar, die - wenn sie selbst nicht geschrieben, zumindest letztes Wort über die Redaktion gehabt hat. Du setzt einen Autor voraus: Ratzinger würde dich sofort in sein Gremium aufnehmen. Beide setzt nur einen Autor voraus ((für Ratzinger also „GOTT“, für dich auch?)

Der „allwissender Autor“ kann nur in bestimmten Perikopen, literarischen Schriftstücken ausfindig gemacht werden, nicht in der sog. Traditionsliteratur, wo man eben nur Fragmente findet.

 

Beispielsweise bei Gethsemane, wo Jesus betet, als alle schlafen. Niemand außer dem "allwissenden Autor" konnte wissen, was Jesus da gebetet hat, denn der Autor hat sehr viel Wert auf die Feststellung gelegt, dass alle Jünger schliefen und niemand Jesus hören konnte. Er erklärt auch nicht, woher er das weiß. Wozu auch? Er weiß es, weil er es sich ausgedacht hat.

 

Das ist eben der Beweis, dass du das NT wie ein strenggläubiger Christ liest – nur anderes - und ein binäres System wahr-nicht-wahr anwendest. Ein Kritiker würde hier eher von "religious narrative" reden, von einer präzisen Gattung, wo nicht die exakte Wiedergabe der Fakte erzielt wird, sondern die Befestigung des Glaubens. Wenn Jesus der Messias war, wenn er durch ein römisches Urteil sterben müsste, als die Juden keine politische Macht hatten, wenn seine Gruppe an ihn glaubte …. Wenn wenn wenn, dann müsste durch einen Verrat überführt worden sei. Da er Mensch wie jeder andere war, hat er verzweifelt Hilfe von Gott gesucht, weil dies ein großes Problem (zumindest nach dem Verständnis der sog. Evangelisten) war. Se non è vero è ben trovato. Auch wenn so was nicht historisch gewesen ist, hat die christliche Gemeinde daran geglaubt und das ist ein historisches Faktum. Das andere ist nur ein literarisches Kleid.

Der Unterschied zwischen meiner Lesung und deiner liegt darin, dass du binär argumentierst und dem Autor ein unredliches Handeln unterstellst, ich hingegen gehe davon aus, dass Religionsliteratur eben eine religiöse Haltung – also einen Raum, wo „affect“ und „emotion“ eine Rolle spielt - aufweist. Das ist ein großer Unterschied.

bearbeitet von Jossi
Link zu diesem Kommentar
Auf anderen Seiten teilen

Na, es wird aber auch eine Geschichte erzählt, die für ziemlich bare Münze genommen wird. Nirgendwo in den Evangelien wird etwas von einer "Selbstmitteilung" erzählt, sondern darum, dass eine wahre Geschichte erzählt wird. Und so ist es auch überwiegend aufgefasst worden, heute zieht man sich natürlich langsam davon zurück.

 

Antike Texte haben auch ihren Sinn, den du more geometrico abstreiten möchtest. In HP VII thread hast du dich als HP-Leser geoutet, und indirekt zugesichert, dass du das Buch als gelungene oder nicht gelungene - Fiktion gelesen hast. Niemand hat von dir erwartet, dass du die historische Wahrscheinlichkeit der Erzählung in Frage stellst. Das wäre non-sense und die Foranten hier hätten nur gelacht. Du hast als zeitgenössischer Leser gehandelt.

 

Man muss mehrere Ebenen unterscheiden, vielleicht wird dann meine Kritik klarer: Es gibt, was die Evangelien angeht, mehrere Auffassungen. Anspruch der Kirche ist es - und etwas, worauf sie ihren Anspruch gründet - ist, dass in den Evangelien ein "historisch wahrer Kern" vorhanden ist. D. h., Jesus war eine wirkliche Person, der wirklich gelebt hat, der wirklich am Kreuz gestorben ist, der wirklich und tatsächlich auferstanden ist. Das ist das, was Paulus ausdrückt: Wenn Jesus nicht wirklich und tatsächlich auferstanden ist, dann ist der ganze Glauben nicht nur auf Sand gebaut, dann ist er buchstäblich nichts, und wer es glaubt, ist elendig dran. Sowohl in der Hinsicht, dass seine Hoffnung eine Illusion ist, als auch, dass er sein Leben nach einem Irrtum ausrichtet.

 

Die erste Ebene ist als die des historischen Kerns. Die zweite Eben ist die, wie man diesen Kern interpretiert, und was um die Geschichten herum bereits Interpretation ist. Von Details des historischen Kerns kann man in jedem Fall sagen: Es ist entweder so passiert, oder ganz anders, oder überhaupt nicht. Das war etwas, was schon Paulus bewusst war, und was er klar ausgedrückt hat.

 

Die Menschen damals wussten bereits zwischen historischen Tatsachen und Märchen und Irrtümern zu unterscheiden. Zu der Zeit war die ganze Debatte darum, die griechischen Göttersagen wörtlich zu nehmen, schon seit Jahrhunderten Geschichte: Bei den Göttersagen handelt es sich um symbolisch zu interpretierende Geschichten. Eine Diskussion, die erst Jahrhunderte später im Christentum erneut beginnen sollte, hatten die Griechen schon zu einem definiten Ende geführt. Die Legenden von sterbenden und auferstehenden Gottheiten waren symbolisch für das "Sterben" der Natur im Winter und ihre "Auferstehung" im Frühjahr zu verstehen, und nur Ungebildete verstanden diese Geschichten wörtlich-historisch oder eben literal. Der erste Vorwurf der griechischen und heidnischen Philosophen an das Christentum lautete auch: Ihr versteht Eure eigene Religion wie die Ungebildeten literal.

 

Aber aus diesem literalen Verständnis heraus ist das Christentum überhaupt entstanden. Ohne dies wäre es nur eine weitere Mysterienreligion gewesen. Das Beharren darauf, dass es die anderen Götter nicht gegeben habe, aber dass Jesus ein wirklicher und leibhaftiger Gott sei, das war der große Trumpf des Christentums. Ohne ein literales Verständnis der Evangelien ist es unmöglich, die Entstehung der Kirche und des Christentums zu erklären oder zu verstehen.

 

Der Anachronismus besteht darin, nun zu tun, als ob das heutige Verständnis immer schon gegolten habe. Das hat es nicht, es ist in der Tat neuzeitlich - und wie im alten Griechenland 2.000 Jahre zuvor waren es die Vorstöße von Atheisten und Freidenkern, die dazu geführt haben, dass man das literale Verständnis allmählich aufgab. Das zweite Mal wiederholt sich diese Geschichte allerdings als Farce ...

 

Natürlich mag es damals schon vereinzelte Christen gegeben haben, die das Christentum wie eine Mysterienreligion behandelten, mit einem literalen Verständnis bei den Ungebildeten im äußeren und einem symbolischen Verständnis bei den Eingeweihten im inneren Kreis. Aber das war nur eine Minderheit, und einige davon endeten als Ketzer.

 

Die katholische Kirche beharrt auf einem historischen Kern, etwa einem wirklich leeren Grab. Die evangelische Kirche (außer bei den evangelikalen Freikirchlern) hat sich davon längst zurückgezogen, ob Jesus eine historische Person war oder nicht sieht man längst nicht mehr als eine interessante Frage an. Dies haben theologische Freigeister wie Albert Schweitzer und andere bewirkt, wenn auch mit großer Verzögerung. Albert Schweitzer hat daraus die Konsequenz gezogen und sich vom christlichen Glauben abgewandt.

 

Ohne historischen Kern ist das Christentum tatsächlich nicht mehr wert als die griechischen Göttersagen, auch diese kann man so interpretieren wie das Christentum, als eine Sammlung interessanter antiker Geschichten, die viel über die damalige Denkweise erzählen. Nur kann man damit keine Hoffnung begründen, nicht die Existenz der Kirche, nicht das Amt des Papstes - alles dies wäre aus dem Fehler entstanden, Sagen literal zu verstehen. Und genau das ist ja auch tatsächlich geschehen. Ohne historischen Kern ist das Christentum auf Sand gebaut.

Link zu diesem Kommentar
Auf anderen Seiten teilen

Guter rhetorischer Griff, Volker, muß ich zugeben. Du hast - wohl unbeobachtet - das Thema schlicht geändert, indem du den Anschein gibst, auf meine Posting zu beantworten.

Du hast die Evangelisten des Betrugs bezichtet, jetzt sprichst du vom historischen Kern, die katholische Kirche voraussetzt. Das ist ein anderes Thema. Du hast vom Autor gesprochen: du muß mir erklären, wo ein Autor in den Evangelien als solcher wirkt.

Daß die KK einen historischen Kern zur Verkündigung braucht, ist mir egal. Ich sprach vom Verständnis antiker Texte. Diese Frage hast abgewichen. too easy, Watson.

bearbeitet von Jossi
Link zu diesem Kommentar
Auf anderen Seiten teilen

Guter rhetorischer Griff, Volker, muß ich zugeben. Du hast - wohl unbeobachtet - das Thema schlicht geändert, indem du den Anschein gibst, auf meine Posting zu beantworten.

Du hast die Evangelisten des Betrugs bezichtet, jetzt sprichst du vom historischen Kern, die katholische Kirche voraussetzt. Das ist ein anderes Thema. Du hast vom Autor gesprochen: du muß mir erklären, wo ein Autor in den Evangelien als solcher wirkt.

Daß die KK einen historischen Kern zur Verkündigung braucht, ist mir egal. Ich sprach vom Verständnis antiker Texte. Diese Frage hast abgewichen. too easy, Watson.

Übrigens:

Die Frage nach dem historischen Kern beschäftigt die Kirche, weil sie heute eine wichtige Frage auch außerhalb christlicher Kreisen und das Christentum nicht so selbstverständlich ist, wie vor 200 Jahren.

Was Paulus anbelangt:

Die "historische" Frage macht Paulus zu schaffen, weil er nicht dabei gewesen ist. Er kann nicht wie Petrus sagen: Ich war dabei, er muß auf das Augenzeugenschaftsargument rekurrieren. Wie gründet er seine "Mission", wie glaubwürdig war er, wenn er kein Jünger Jesu gewesen ist? Gerade seine Betonung auf dieser Frage sollte uns stützig machen: Die Historizität Jesu, die nicht jenseits des Judentums gehen würde, ist uninteressant für die "Heiden": Daher: Wenn Jesus nicht "für mich" gestorben ist, ist alles Unsinn. Die Geschichte spielt hier eine Nebenrolle, die Bekenntnis zur Geschichte die wichtigste Rolle. Einen schönen Guten Morgen an alle.

Link zu diesem Kommentar
Auf anderen Seiten teilen

Guter rhetorischer Griff, Volker, muß ich zugeben. Du hast - wohl unbeobachtet - das Thema schlicht geändert, indem du den Anschein gibst, auf meine Posting zu beantworten.

Du hast die Evangelisten des Betrugs bezichtet, jetzt sprichst du vom historischen Kern, die katholische Kirche voraussetzt. Das ist ein anderes Thema. Du hast vom Autor gesprochen: du muß mir erklären, wo ein Autor in den Evangelien als solcher wirkt.

 

Keineswegs habe ich die Evangelisten pauschal des Betrugs bezichtigt. Ich bezweifle, dass der anonyme Autor des Evangeliums nach Markus einen Betrug beabsichtigt hat, was er geschrieben hat, ist ein Midrasch des AT und anderer Elemente. Ein (Selbst-)Betrug wurde daraus, dass man in der frühen Kirche - und teilweise bis heute - von einem wahren historischen Kern ausging.

 

Was hat Markus (nennen wir ihn mal, den Gepflogenheiten entsprechend, weiterhin so) denn gemacht? Er hat eine alte Spruchsammlung genommen (Q) und mit Versatzstücken aus dem AT eine Geschichte um diese Sprüche herumgebastelt. Diese Geschichte greift auch ein bekanntes Motiv auf, dass des leeren Grabs, wie es aus den Religionen des Mithras, Osiris, Adonis, Attiz, Tammuz und Odonysos damals bekannt war. Dabei geht er genauwie Dan Brown vor: Er nimmt alte Geschichten und konstruiert daraus eine neue Geschichte. Er kann mit der Entdeckung des leeren Grabs durch die Frauen enden, weil dies ein altes und bekanntes Motiv war: In den Mysterienreligionen waren es immer Frauen, die das leere Grab entdeckten. Er muss auch nichts über eine Auferstehung schreiben, weil in den alten Religionen das leere Grab ein Symbol der Auferstehung war, das dürfte damals fast jeder mit griechischer oder römischer Bildung auf Anhieb verstanden haben (und Markus war Grieche).

 

Wenn man also versucht, das Evangelium nach Markus in seinem historischen Kontext zu verstehen, dann ist das obige Szenario der Ausgangspunkt. Ohne diesen Kontext wird man nichts von der Rezeption verstehen, man kann auch nicht verstehen, warum das Evangelium so endet. Da niemand etwas von einem leeren Grab Jesu wusste, musste er auch diesen Umstand erklären, er machte dies mit dem stilistischen Mittel des Antiklimax, den er öfters verwendet: Die Frauen erzählten niemandem etwas davon, daher wusste auch niemand etwas von einem leeren Grab.

 

Der Versuch, es symbolisch zu verstehen, verschleiert diese Zusammenhänge. Wenn man es wirklich in seiner Symbolik verstehen wollte, müsste man den Kontext begreifen: Demnach war die Auferstehung Jesu ebenso wie in den Mysterien ein Symbol für die Auferstehung der Natur, diesmal aber in einem jüdischen Kontext. Aber was man heutzutage versucht, ist, darin eine ganz andere Symbolik zu sehen, in dem man den Kontext mit den Mysterien leugnet und die Assoziationen, die Kenner der Mysterien beim Lesen haben werden - die Eingeweihten, die das symbolisch verstehen werden, und der Rest, der dies wie bei den Mysterien selbst als eine wahre Geschichte verstehen wird.

 

Letzteres, literales Verständnis, hat sich dann im Christentum zunächst durchgesetzt. Aus der Geschichte ergibt sich, dass die Evangelien damals eben nicht symbolisch verstanden wurden. Nur aus diesem falschen Verständnis heraus kann man die Entwicklung des frühen Christentums überhaupt verstehen. Sobald man die Symbolik wirklich versteht, auf die sich Markus bezieht, entzieht man dem Christentum seinen historischen Boden. Aber man möchte die Symbolik anders verstehen, und dies macht man, in dem man die Evangelien aus ihrem historischen Kontext herauslöst und eine im Grunde genommen beliebige Symbolik ohne Anhaltspunkte in die Evangelien hineininterpretiert. Beliebig deswegen, weil man ohne den Kontext alles Mögliche hineindeuten kann, um damit das, was man selbst dazu meint, in den Text hineinzulesen. Diese Symbolik ist ohne ein literales Verständnis der Texte selbst nicht verstehbar.

 

Vorbereitet wurde dies von den anderen drei Evangelisten, die aufbauend auf Markus, auch die literale Interpretation bevorzugten. Wenn man nun das literale Verständnis wieder symbolisch und ohne historischen Kontext interpretiert, kommt man zu dem heutigen, modernen Verständnis der Evangelien und verkennt die Intention der Autoren und ignoriert die Intention der frühen Kirche.

 

Wie der Autor in den Evangelien wirkt, ist einerseits mit dem Bezug auf den "allwissenden Autor" erklärt, andererseits auch damit, dass es sich um Midrasch handelt: Ältere Texte werden als Basis für eine neue Geschichte uminterpretiert. Dasselbe hat auch Dan Brown gemacht, letzterer natürlich mit dem Wissen und der Absicht, einen Roman zu schreiben, der den Leser unterhält.

 

Daß die KK einen historischen Kern zur Verkündigung braucht, ist mir egal. Ich sprach vom Verständnis antiker Texte. Diese Frage hast abgewichen. too easy, Watson.

 

Antike Texte kann man nur verstehen, wenn man den historischen Kontext verstanden hat. Mit der heutigen Symbolik bemüht man sich aber, diesen Kontext zu ignorieren, und über das falsche literale Verständnis eine weitere Ebene einer ahistorischen Symbolik drüberzumontieren. Den Kontext bekommt man nur historisch-kritisch, aber man versucht, in der Kritik nicht zu weit zu gehen, um einen Kern (das Kerygma) vor der Kritik zu schützen. Das könnte man als teilhistorisch und teilkritisch bezeichnen. Radikalkritik besteht darin, auch dann nicht halt zu machen, wenn die Kritik diesen Kern betrifft, denn was Kern der Botschaft ist, ist eine willkürliche Annahme.

Link zu diesem Kommentar
Auf anderen Seiten teilen

Keineswegs habe ich die Evangelisten pauschal des Betrugs bezichtigt. Ich bezweifle, dass der anonyme Autor des Evangeliums nach Markus einen Betrug beabsichtigt hat, was er geschrieben hat, ist ein Midrasch des AT und anderer Elemente. Ein (Selbst-)Betrug wurde daraus, dass man in der frühen Kirche - und teilweise bis heute - von einem wahren historischen Kern ausging.

Nein, man kann das Markus' Evangelium (aber auch die anderen Evangelien) nicht als Midrash bezeichnen. Midrash ist eine exegetische Methode, die in der Regel von einem Vers aus dem AT ausgeht und ihn interpretiert, ausweitert, zensiert etc. Midrash ist nach rabbinischer Aufassung, was damals und heute als Hermenutik genannt werden kann. Er setzt einen (mündlichen oder schriftlichen) "kanonischen" Text voraus. Die Überzahl der antiken Midrashim (Plural von Midrash) ist der Tora (den fünf ersten Büchern) gewidmet.

Man unterschiedet zwischen halakhischen Midrashim, die ein Gebot, Gesetz, Unterweisung rechtspraktisch erklären, und den aggadischen Midrashim, die eine Tradition, ein Diktum, eine Aussage erzählerisch, fiktiv, erfinderisch, künstlich kommentieren. Du hast wohl diese letzte Gattung vor Augen.

 

Die Evangelien enthalten ja midrashische Elemente, Perikope etc. sind aber KEIN Midrash.

Wenn du eine Idee von dem, was ein Midrash ist, kannst du ja bei Günter Stemberger, Einleitung in Talmud und Midrash (viele Editionen) nachlesen.

Die Evangelien sind Erzählugen (ich nenne sie schon religious narrative), die vor allem eine liturgisches Ziel hatten: Die Gemeinde der (neuen) Juden und Heiden in ihrem Glauben zu befestigen. Vergleichbares gibt es im Judentum dieser Epoche nicht. Denn die jüdische Bildung und Ausbildung fand ja in den Schulen (bet ha-Midrash) statt und nicht aufgrund von Büchern (mit Ausnahme der Tora).

bearbeitet von Jossi
Link zu diesem Kommentar
Auf anderen Seiten teilen

Keineswegs habe ich die Evangelisten pauschal des Betrugs bezichtigt. Ich bezweifle, dass der anonyme Autor des Evangeliums nach Markus einen Betrug beabsichtigt hat, was er geschrieben hat, ist ein Midrasch des AT und anderer Elemente. Ein (Selbst-)Betrug wurde daraus, dass man in der frühen Kirche - und teilweise bis heute - von einem wahren historischen Kern ausging.

Nein, man kann das Markus' Evangelium (aber auch die anderen Evangelien) nicht als Midrash bezeichnen. Midrash ist eine exegetische Methode, die in der Regel von einem Vers aus dem AT ausgeht und ihn interpretiert, ausweitert, zensiert etc.

 

Genau das hat Markus zu großen Teilen gemacht: Er hat das AT nach Aussagen durchsucht, die man auf Jesus anwenden könnte, und hat die Geschichte von Jesus dann so geschrieben, als ob der Text aus dem AT eine Prophezeiung dieser Ereignisse sei - oder die Ereignisse eine Erfüllung der Schrift. Er hat diese Methode benutzt, um seiner Geschichte eine gewisse Autorität zu verleihen, oder genauer gesagt, um sich die Autorität des AT "auszuborgen". Wie man an der Geschichte sehen kann, war das von geradezu durchschlagendem Erfolg und sollte tausende von Jahren Abermillionen von Menschen narren.

 

Natürlich war Markus kein Rabbiner, insofern ist das eine weit gehende Dehnung des Wortes Midrasch. Er hat ja nicht nur das AT genutzt, sondern ebenso Q wie auch andere Sammlungen.

 

Midrash ist nach rabbinischer Aufassung, was damals und heute als Hermenutik genannt werden kann. Er setzt einen (mündlichen oder schriftlichen) "kanonischen" Text voraus. Die Überzahl der antiken Midrashim (Plural von Midrash) ist der Tora (den fünf ersten Büchern) gewidmet.

Man unterschiedet zwischen halakhischen Midrashim, die ein Gebot, Gesetz, Unterweisung rechtspraktisch erklären, und den aggadischen Midrashim, die eine Tradition, ein Diktum, eine Aussage erzählerisch, fiktiv, erfinderisch, künstlich kommentieren. Du hast wohl diese letzte Gattung vor Augen.

 

Ja, es handelt sich um eine fiktive Erzählung, die aus dem AT und anderen Quellen heraus konstruiert wurde. Merkmale dieser Konstruktion kann man nach heute erkennen, so sind etwa griechische Fehlübersetzungen Grundlage einiger Textstellen, andere Textstellen, auf die sich Markus bezieht, hat man nie gefunden, doppeldeutige Übersetzungen wurden wörtlich interpretiert (so muss Jesus auf einer eselin und ihrem Fohlen gleichzeitig in Jerusalem einreiten, weil die griechische Übersetzung mehrere Deutungen zulässt, und Markus die falsche Deutung erwischt hat) etc.

 

Wie gesagt, Markus hat dieselbe Methode wie Dan Brown verwendet. Er setzt alte Geschichten, Sagen, Legenden etc. zu einer neuen Geschichte zusammen. Was er sich dabei gedacht hat, kann man nicht wissen, ob er das als Kunstform betrachtete oder der Meinung war, eine wahre Geschichte wiederzugeben, ob er mündliche Erzählungen mit eingeflochten hat - das wird sich nicht mehr ergründen lassen. Wenn man Dan Brown nicht befragen könnte, wüsste man ja auch nicht, ob Dan Brown seiner eigenen Geschichte glaubt oder nicht. Die Geschichte jedenfalls ist natürlich so konstruiert, als ob Dan Brown das glaubt, und wegen dieser Konstruktion ist es schwer, aus dem Text das Gegenteil herauszulesen - das geht nur bei offensichtlichen Fehlern, oder wenn der Autor schlemisch war.

 

Die Evangelien enthalten ja midrashische Elemente, Perikope etc. sind aber KEIN Midrash.

 

Nicht als Ganzes, nein, das wäre übertrieben.

 

Die Evangelien sind Erzählugen (ich nenne sie schon religious narrative), die vor allem eine liturgisches Ziel hatten: Die Gemeinde der (neuen) Juden und Heiden in ihrem Glauben zu befestigen.

 

Das ist bereits Interpretation: Du setzt den Glauben voraus, über den Markus dann berichtet. Das ist mit hoher Wahrscheinlichkeit falsch, es ist vielmehr andersherum: Markus nimmt einen vorhandenen Glauben, baut auf ihm auf und gibt ihm eine gänzlich neue Richtung. Es basiert auf der Fiktion der Kirche, dass es eine Quelle für den Glauben gab, und diese eine Strömung hat sich dann später in verschiedene Richtungen aufgespalten (der erste Mythos der Orthodoxie ist, dass sie existiert). Das ist natürlich eine grobe Uminterpretation der tatsächlichen Verhältnisse. Es gab von Anfang an verschiedene Richtungen, und eine davon wurde später zur Orthodoxie - und diese hat die anderen Richtungen zur Ketzerei erklärt, ihre Anhänger verfolgt und ihre Schriften vernichtet und die Legende von der "einen wahren Quelle, die sie vertritt und immer vertreten hat" begründet.

 

Die verschiedenen Richtungen kann man in den verschiedenen Evangelien nachlesen. Nur auf die vier kanonisierten Evangelien zu starren ergibt ein vollkommen falsches Bild vom frühen Christentum! Die Geschichte wurde von den Siegern geschrieben - und eben auch in ihrem Sinne umgeschrieben. Dabei ist ein bestimmtes Bild von Jesus entstanden, schon alleine durch die Auswahl der Evangelien, von denen es eine ganze Menge gegeben hat, man schätzt bis zu 200, aber mehr als 100 in jedem Fall. Schon Lukas, der zweite kanonisierte Evangelist, schreibt ja davon, dass vor ihm "schon mehrere" es unternommen hätten, die Geschichte aufzuschreiben, was bedeutet, dass es eine ganze Menge Evangelien geben muss, die älter sind als Lukas - und eventuell sogar älter als Markus! Die Kirche hat von diesen apokryphen Evangelien alles vernichtet, dessen sie habhaft werden können, dass dieses "Massaker an den Schriften" überhaupt ein paar andere Evangelien "überlebt" haben, grenzt schon an ein Wunder.

 

Es gab mehrere Strömungen - die dann später verketzert wurden - die früher entstanden sind als die Orthodoxie, die sich vor allem mit staatlicher Gewalt, Mord, Todesdrohungen etc. durchgesetzt hat. So ist z. B. die Gnosis deutlich älter und eben verketzert worden, wie vieles andere auch.

 

Das alles müsste man berücksichtigen - aber nein, man starrt natürlich nur auf die kanonisierten Evangelien und auf die Geschichtsschreibung der Sieger und ihre Interpretation dessen, was geschehen ist. Damit kann man niemals ein auch nur halbwegs realistisches Bild der damaligen Zeit bekommen, und auf diese falsche Sicht setzt man dann noch eine drauf, in dem man das, was einem nicht passt, davon symbolisch interpretiert, um damit die Widersprüche wegzubügeln. Das Buch von Ratzinger ist daher auch nur ein weiterer Versuch, die Geschichte so umzuinterpretieren, dass sie möglichst glatt erscheint.

 

Eine völlig realistische Sicht kann man natürlich nicht bekommen, man kann nur sagen, welche von zwei Sichtweisen jeweils der historischen Wahrheit wahrscheinlicherweise etwas näher kommt. In dem man den historischen Kontext weglässt, sinkt diese Wahrscheinlichkeit natürlich ins bodenlose.

Link zu diesem Kommentar
Auf anderen Seiten teilen

Joseph Ratzinger, Benedikt XVI, Jesus von Nazareth

 

1. Kapitel DIE TAUFE JESU

 

Zeitliche Verortung (Seite 36-39)

 

Zu Beginn des Kapitels versuch Benedikt das Geschehen der Taufe zur verzeitlichen. Er orientiert sich dabei an den Evangelien. Dabei geht es ihm natürlich weniger um eine absolute Jahreszahl sondern viel mehr versucht er die Symbolik der Zeitangaben zu entschlüsseln. Zum einem wäre da der Stammbaum Jesu aus dem Mathhäusevangelium. Er erstreckt sich von Abraham über David bis zu Jesus. Der Jesus, der legetimer Nachfolger des König Davids ist und der in direkter Linie an der Verheißung an Abraham und seine Erben partizipiert. Benedikt nennt diesen Stammbaum den „jüdisch-heilsgeschichtlichen Stammbaum, der höchstens indirekt auf die Weltgeschichte blickt.“

 

=>Jesus, Nachfolger König Davids und Teilhaber der Verheißung Abrahams

 

Auch Lukas fügt seinem Evangelium einen Stammbaum Jesu bei. Jener geht zurück bis auf Adam, mit einem geschickten „Kunstgriff“ sogar bis auf Gott direkt (Lk 3,38). Benedikt: „So wird die universelle Sendung Jesu herausgestellt: Er ist Sohn Adams – Menschensohn.“ (dies wird einige Seiten später noch einmal wichitg).

Neben den Stammbäumen legt Benedikt jedoch einen zweiten Schwerpunkt. Lukas nennt in seinem Evangelium sehr konkrete Zeiträume: „zur Zeit des Herodes, des Königs von Judäa“, „In jenen Tagen erließ Kaiser Augustus den Befehl“, „Es war im 15.Jahr der Regierung des Kaisers Tiberius“. Das Wirken Jesu ist nicht als mystisches Irgendwann anzusehen, sondern wird zum „genau“ datierbar-historischen Ereignis und unterscheidet sich damit von der Zeitlosigkeit eines Mythos

 

=>Die Datierbarkeit Jesu Wirkens unterscheidet es von einem zeitlosen Mythos.

 

 

Johannes der neue Prophet (S.39 – 42)

 

Über einen – wie ich finde recht eleganten – Kunstgriff kommt Benedikt nun von der zeitlichen Einordnung zu Johannes dem Täufer.

Für Benedikt geht es bei der Genealogie und der zeitlichen Einordnung mit Hilfe der Kaiser auch um zwei unterschiedliche Systeme – „Gebt Gott, was Gottes ist, und dem Kaiser was des Kaisers ist“. Er streift die Zeit der Unruhen und Aufstände in Israel zur Zeit des ersten Jahrhunderts – „Wieder einmal lebt Israel in einer Zeit des Gottesdunkels“ – in einer Zeit ohne Prohpeten. Über die zelotischen Aufstände bewegt sich Benedikt zu den Qumran Essener, um nun Johannes den Täufer einzuführen; indem er eine geistige Nähe zwischen Johannes und den Essenern „vermutet“ ohne an dieser Stelle jedoch näher darauf einzugehen (Weiterführende Literatur: H.Stegeman, Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus). In einer Zeit der Unruhe ist Johannes der neue Prophet, der Wegbereiter für etwas Größeres.

 

=>In einer Zeit der Unruhe und des Gottesdunkels verheißt Johannes ein rettendes Eingreifen Gottes.

 

Die Taufe (S. 41-43)

 

Benedikt schreibt, das zur Taufe des Johannes auch ein Sündenbekenntnis gehörte (hier verweist er auf Gnilka, Matthäusevangelium). Die Überwindung der sündigen Existenz und der Aufbruch in ein neues Leben wird durch das Untertauchen in den Jordan symbolisiert. Im Untertauchen steckt das „ritualisierte“ Sterben und im Auftauchen nicht nur das Reinwaschen von den Sünden, sondern eine vorweggenommene Auferstehung.

 

=>Die Taufe als ritueller Tod und Auferstehung

 

 

Die Bedeutung der Taufe Jesu für den Menschen (S.43-47)

 

Bei der Taufe im Jordan reiht Jesus sich in die „Schar der Sünder“ ein um getauft zu werden. Wie Benedikt zuvor dargelegt hat, gehörte zur Taufe ein Sündenbekenntnis – die Taufe selber ist quasi ein Bekenntnis der Sünden – und ein Versuch ein „altes, missratenes Leben abzulegen“ Wie konnte Jesus das tun? Der, der im Allen dem Mensch gleichgeworden ist, außer der Sünde. Benedikt macht diesen Widerspruch ebenfalls am Evangelium deutlich: „Ich müsste von dir getauft werden, und du kommst zu mir?“ – „Lass es für jetzt tun…dass die ganze Gerechtigkeit erfüllt werde“ Mt 3,14-15. Gerechtigkeit erfüllen wird von Benedikt als uneingeschränktes „Ja“-sagen zu Gottes Willen interpretiert. Als gehorsame Aufnahme seines Jochs. Das Auf-sich-laden der Schuld der ganzen Menschheit quasi als Vorwegnahme des Kreuzes.

 

(An dieser Stelle hätte ich mir von Benedikt mehr gewünscht als „nur“ ein formelhaftes Aufführen eines fundamentaltheologischen Axioms – an anderer Stelle führt es Dinge haarklein aus, an dieser Stelle finde ich ihn eher nachlässig kurz – Seite 44. Es wäre meiner Meinung nach evtl. sinnvoll gewesen hier noch einmal auf Adam zurückzukehren).

 

An dieser Stelle führt Benedikt nun noch einmal (sehr schön – und sehr knapp) in die Tauftheologie des Paulus ein „wisst ihr denn nicht, dass wir alle, die wir auf Christus Jesus getauft wurden, auf seinen Tod getauft worden sind?“ Röm 6. Ich persönlich halte diese Stelle für eine der Wichtigsten im ganzen Kapitel. „an den Ort der Taufe Jesu zu treten“ bedeutet nun für uns in seiner „Identifikation mit uns, unsere Identifikation mit ihm zu empfangen.“…“dieser Punkt ist nun für uns der Punkt unserer Antizipation (Vorwegnahme) der Auferstehung mit ihm geworden“. Oder Paulus weiter: Wir wurden mit ihm begraben durch die Taufe auf den Tod; und wie Christus durch die Herrlichkeit des Vaters von den Toten auferweckt wurde, so sollen auch wir als neue Menschen leben.“

Im nächsten Absatz macht Benedikt dies noch einmal an der Tradition (Liturgie und Ikonographie) der Ostkirche deutlich. Dieser Absatz ist durchaus interessant, aber für den weiteren Inhalt nicht zwingend erforderlich.

 

=>Taufe heißt für uns uns in seiner „Identifikation mit uns unsere Identifikation mit ihm zu empfangen

 

 

Lamm Gottes (S. 47-49)

 

Benedikt begibt sich nun noch einmal direkt zurück zum Evangelium, nämlich zum Johannesevangelium. Johannes der Täufer spricht beim Anblick Jesu die Worte: Seht das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinweg nimmt.“ Zum einen entfaltet er diesen Begriff nun kurz vor dem Hintergrund, dass Jesus an einem Pascha-Fest gekreuzigt wurde – „und nun als das wirklich Pascha-Lamm erscheinen musste“. Zum Anderen aber auch darüber, dass das hebräische Wort talia sowohl „Lamm“ als auch „Knecht, Knabe“ bedeuten kann (Verweis auf Joachim Jeremias, Theologisches Wörterbuch zum NT). Johannes mag mit „talia“ den Knecht Gottes gemeint haben, der die Sünden der Welt trägt. Geduldig wie ein Opferlamm: Der Sohn der Knecht wurde, der Hirte, der Lamm wurde – für die Befreiung der ganzen Welt, der Menschheit als Ganzen. Benedikt geht hier zum ersten Mal auf die Universaltität der Sendung Jesu ein. Israel ist nicht für sich selber da, sondern der Weg auf dem Gott zu allen kommen will.

 

=>Der Sohn der Knecht wurde, der Hirte der, der Lamm wurde – für die Befreiung der Welt.

 

 

Der Himmel reißt auf, der Geist Gottes kommt herab (S. 49-50)

 

Bevor Benedikt noch kurz auf den Aspekt der Trinität eingeht, legt er Wert auf das Bild des sich öffnenden Himmels. Für ihn ist das Bild des geöffneten Himmels ein Zeichen dafür, dass durch die (Willens)Gemeinschaft Jesu mit dem Vater, Gottes Wille ganz erfüllt wird. Denn das Wesen des Himmels ist ja gerade, dass Gottes Wille dort bereits ganz erfüllt ist.

Am Schluss des Kapitels (S.50-51) erteilt Benedikt den Auslegungen eine Absage, die die Taufe Jesu als sein Berufungserlebnis deuten. Durch die persönliche Erschütterung durch die Taufe sei das Bewusstsein einer Gottesbeziehung entstanden. Benedikt reicht dieses jedoch nicht. Alles was er in diesem Kapitel bis hierhin erarbeitet hat, fußt auf einer bewussten Annahme Jesu der menschlichen Natur und der Last der Sünde in der Taufe.

 

=>Jesus wird in der Taufe bewusst (und mit Vorsatz) zum Lamm Gottes

 

Na dann mal Viel Spaß beim Lesen und Diskutieren,

Carsten

Link zu diesem Kommentar
Auf anderen Seiten teilen

Join the conversation

You can post now and register later. If you have an account, sign in now to post with your account.

Gast
Auf dieses Thema antworten...

×   Du hast formatierten Text eingefügt.   Formatierung jetzt entfernen

  Only 75 emoji are allowed.

×   Dein Link wurde automatisch eingebettet.   Einbetten rückgängig machen und als Link darstellen

×   Dein vorheriger Inhalt wurde wiederhergestellt.   Clear editor

×   You cannot paste images directly. Upload or insert images from URL.

×
×
  • Neu erstellen...