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Wahrheit, Negation und Beweisbarkeit


iskander

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@Marcellinus

 

Ich antworte auf diesen Deinen Beitrag einmal hier, weil es sonst doch ein allzu langes OT würde. ;)

 

 

Zitat

Das ist allerdings ein blöder Trick! "Die Sonne kreist um die Erde" ist eindeutig falsch und das ist deshalb so bedeutsam, weil diese Behauptung lange vertreten wurde. "Die Sonne kreist nicht um die Erde" ist eben keine "wahre" Aussage, denn für sich sagt sie ja nichts, sondern nur wichtig als Ausdruck der "Falschheit" einer lange und vehement vertretenen Überzeugung. Es ist damit ein negative Aussage, und die können durchaus "wahr" sein, im Sinne von endgültig und definitiv. Positive Aussagen dagegen, die etwas Neues behaupten, sind maximal gut belegt, aber immer vorläufig bis man etwas Besseres findet und damit eben nicht "wahr".

 

Da habe ich offen gesagt meine Zweifel. Verhält es sich nicht so, dass selbst "eindeutig" negative Aussagen (bzw. Falsifikationen) oftmals ein "positives" Wissen voraussetzen? Um beispielsweise mit Gewissheit die wohl eindeutig "negative" Aussage tätigen zu können, dass in Afrika in freier Wildbahn keine Tiger leben, muss man erst mal einiges über die Afrika wissen und den Kontinent gründlich erforscht haben. Weiß man nicht "positiv" wie es in Afrika tatsächlich "aussieht", so weiß man auch nicht, wer dort nicht lebt.

 

Auch die Aussage "Die Sonne kreist um die Erde" steht ja nicht für sich allein, sondern die Widerlegungen dieser Behauptung fallen doch größtenteils mit den Beweisen dafür zusammen, dass eben die Erde um die Sonne kreist. Man könnte es so formulieren: Eben indem wir "positiv" wissen, dass die Erde um die Sonne kreist, wissen wir "negativ", dass die Sonne nicht um die Erde kreist. Falls wir die Gewissheit der einen ("negativen") Aussage infragestellen dürften, käme auch die Gewissheit der anderen ("positiven") Überzeugung ins Wanken. (Das heißt natürlich nicht, dass wir "alles" bis ins letzte Detail mit Sicherheit über unser Sonnensystem wissen.)

 

Ich hatte ja auch schon ein Beispiel erwähnt, bei dem "positive" und "negative" Aussagen nicht nur "beweistechnisch", sondern auch "logisch" zusammenhängen: Die Aussage, dass die Erde nicht größer ist als die Sonne ist äquivalent zur "positiven" Aussage, dass die Sonne mindestens so groß ist wie die Erde. Das Größen-Verhältnis, in welchem Erde und Sonne zueinander stehen (und das sich ja auch noch näher spezifizieren lässt) ist aber ja durchaus interessant und relevant und ist sicher mehr als nur eine "Negation". Und die "positiven" und "negativen" Aussagen, die man über dieses Größenverhältnis tätigen kann, beschreiben jeweils nur Teilaspekte derselben Wirklichkeit - sie zäumen das Pferd sozusagen von verschiedenen Seiten auf.

 

Oder betrachte eine Aussage wie "Der K2 ist nicht der höchste Berg der Welt."  Wir wissen nur, dass diese "negative" Aussage wahr ist, weil wir eben wissen, dass es mindestens einen höheren Berg gibt. Wüssten wir nämlich nicht "positiv", dass der Mount Everest der höchste Berg der Welt ist, wüssten wir auch nicht, dass der K2 nicht der höchste Berg der Welt ist. Die Falsifikation der These, dass der K2 der höchste Berg der Welt ist, setzt hier also den "positiven" Beweis voraus, dass der Mount Everest höher ist als jeder andere Berg. Letzterer Beweis wiederum erfordert ein "positives" Wissen um die tatsächliche Höhe aller Berge auf dieser Erde (Mount Everest und K2 eingeschlossen), zumindest ein ungefähres. Wüssten wir nicht mit hoher Sicherheit, wie hoch die Berge dieser Welt tatsächlich sind (vor allem die größten), könnten wir eben auch nicht mit hoher Gewissheit die These, dass der K2 der höchste Berg sei, falsifizieren. (Und die genaue Bestimmung der Höhe von Bergen setzt schon wissenschaftliche Anstrengungen voraus.)

 

Wir können aber auch ein Beispiel von Dir nehmen:

 

"Wir wissen zwar nicht genau und endgültig, wie die biologischen Arten auf diesem Planeten entstanden sind, aber daß die Vorstellung, sie seien vor 6000 Jahren innerhalb von 6 Tagen von einer als übernatürlich gedachten Person 'geschöpft' worden, definitiv falsch ist, das wissen wir sicher."

 

Die Aussage, dass das das Leben nicht 6.000 Jahre oder jünger ist, ist äquivalent zu der Aussage, dass es älter sein muss. Und das Wissen, dass etwas sehr alt ist, dass es etwas schon sehr lange gibt, ist doch auch ein "positives" Wissen. (Wenn man das bestreitet, müsste man aber wohl immer noch zugeben, dass dann das Wissen darum, dass etwas relativ jung ist, ein "positives" Wissen darstellt - denn sonst wäre sowohl eine Aussage wie auch ihre Negation rein "negativ".)

Und die "negative" Aussage, dass Leben nicht mit einem Schlag entstanden sind, impliziert "positiv" eine Entwicklung in der Zeit - selbst wenn wir diese nicht genau im Detail kennen. Aber auch ein Wissen, das manche oder viele Details nicht kennt, kann ein echtes Wissen sein.

 

Zitat

Die "wahre" Aussage, die einer erkennbar falschen Aussage gegenübersteht, ist einfach eine negative Aussage, die man nur anders formuliert hat. Eine positive Aussage wird es dadurch nicht.

 

Hier stellt sich (erneut) die Frage, ob Aussagen so einfach in "positive" und "negative" Behauptungen separieren lassen. Neben dem gerade Gesagten finde ich es schwierig, in manchen Fällen überhaupt zu behaupten, dass im konkreten Fall eine Aussage exklusiv "positive" und die andere exklusiv "negativ" wäre.

 

Um auf das Beispiel von gerade eben zurückzukommen: Ist die Aussage, dass etwas historisch recht alt sei (sagen wir älter als 6.000 Jahre), eine "positive" oder eine "negative" Aussage? Oder ist die These, dass etwas historisch relativ jung ist (jünger als 6.000 Jahre), eine "positive" oder "negative" Aussage? Beide Aussagen haben doch "positive" und "negative" Seiten, würde ich meinen. Und hinter beiden Aussagen steht ja letztlich der Satz "Phänomen X hat am Zeitpunkt Y (oder im Zeitfenster Z) angefangen zu existieren" - und das wäre eine "positive" Aussage. Und zugleich eine "negative": Denn damit ist ja auch gesagt, dass es X vor Y oder Z nicht gab.

 

(Es fallen einem auch alltägliche Beispiele ein: Die Aussage "Das ist eine Fälschung" ist doch weder rein positiv noch rein negativ.)

 

Abgesehen davon ergibt sich auch bei scheinbar einfachen Fällen die Frage, ob "negative" Aussagen tatsächlich leichter zu beweisen sind als "positive". Ist beispielsweise die "positive" Aussage, dass es im hohen Norden Eisbären gibt, wirklich weniger gut bewiesen als die "negative" Behauptung, dass es auf der Antarktis keine Eisbären gibt? Ist der "positive" Satz  "Schwefel ist brennbar" weniger sicher als der "negative" Satz "Eisen ist nicht brennbar"? Sind nicht alle diese Aussagen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wahr?

(Und falls diese Beispiele zu trivial sind, könnte man natürlich auch komplexere Fälle nehmen, die zu klären erheblicher Forschung bedurfte.)

 

Des Weiteren würde ich auch bezweifeln, dass "negativ" Aussagen weitgehend "gehaltlos" seien - eine These, die Du zu vertreten scheinst, wenn ich Dich richtig verstehe.

Dass der Angeklagte unschuldig ist, dass der Vogel Strauß nicht fliegen kann, und dass die Ringelnatter nicht giftig ist: Auch das sind eben Aspekte der Wirklichkeit. Wer um sie weiß, hat denjenigen etwas voraus, die nicht um sie wissen. Wenn ein Kind lernt, dass Eisbären nicht am Südpol leben, dann hat es etwas Neues erfahren.

 

Zur Gestalt der Wirklichkeit gehört eben auch in einem gewissen Sinne das, was es nicht gibt. Man könnte das vielleicht mit einer Melodie vergleichen, die ja auch nicht allein dadurch charakterisiert ist, dass in ihr bestimmte Töne an bestimmter Stelle vorkommen, sondern auch dadurch, dass weitere Töne in ihr nicht vorkommen...

bearbeitet von iskander
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Natürlich ist immer Wissen nötig. Aber schon ein geringes Teilwissen kann ausreichen, eine Annahme zu falsifizieren. Für eine Verifizierung ist dagegen immer das vollständige Wissen nötig

 

Werner

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Sagst doch einfacher: der menschliche Wissenerwerb, du kannst es auch Erkenntnisprozess nennen, ist eben ein solcher, ein Prozess, in dessen Verlauf Menschen, gedankliche Modelle erstellen, um Tatsachenbeobachtungen in einen Zusammenhang zu bringen. Diese Modelle dienen dazu, sich in dieser Welt zu orientieren.

 

Solange Menschen noch kaum über nachprüfbares wissen verfügten, bildeten sie sich ihre gedanklichen Oreintoerungsmittel vornehmlich mit Hilfe der Fantasie. Entsprechend oft scheiterten sie mit ihren Modellen an der Wirklichkeit, laut Popper übrigens die einzigen Gelegenheiten, bei denen wir mit der Wirklichkeit in Kontakt kommen. Dabei machen Menschen Beobachtungen, die ihre bisherigen Modelle falsifizieren.

 

Die neuen Modelle, die sich gelegentlich daraus ergeben, sind zwar meistens besser als die alten, aber scheitern in der Regel nach einiger Zeit ebenfalls, sind also, wie alles Wissen, nur vorläufig. Das einzige, was dagegen Bestand hat, ist das Wissen im die Falschheit ehemals für richtig gehaltener Vorstellungen.

 

Insofern ist die Erkenntnis der Falschheit bestimmter Vorstellung zwar meistens mit dem Erwerb neuen, positiven Wissens verbunden, aber während dieses positive Wissen vorläufig ist, ist das negative endgültig. Daher ist aus meiner Sicht der eigentliche Wissensfortschritt das Wissen um unsere Irrtümer. Was wir dagegen an ihre Stelle setzen, mag besser durch Tatsachenbeobachtung belegt sein, birgt aber meistens den Kern des nächsten Irrtums, der nächsten Illusion schon in sich.

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vor 37 Minuten schrieb Werner001:

Für eine Verifizierung ist dagegen immer das vollständige Wissen nötig

 

Und genau diese "vollständige Wissen" haben wir nicht, bzw. können nicht wissen, ob es sich nicht schon morgen als unvollständig erweist. 

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Wissenserwerb ist ein Prozeß, in dessen Verlauf wir immer wieder gedankliche Modelle erstellen, die unsere Tatsachenbeobachtungen in einen nachprüfbaren Zusammenhang bringen sollen. Es ist also ein wechselseitiger Prozeß von Tatsachenbeobachtung und Modellbildung.

 

Im Verlauf dieses Prozesses machen wir immer wieder Beobachtungen, die mit unseren gedanklichen Modellen in Widerspruch stehen und diese damit zum Scheitern bringen. Sicher ist, daß diese alten Modelle falsch sind. Die neuen Modelle mögen besser sein, wie lange sie halten, wissen wir nicht, aber die Erfahrung hat uns gelehrt, daß sie es nicht ewig tun.

 

Der Grund ist relativ einfach. Wir leiden unter einer prinzipiellen, dreifachen Einschränkung unserer Erkenntnis, dem Mangel an Informationen, Zeit und kognitiven Fähigkeiten. So sind unsere Modelle notwenig weniger komplex als die Wirklichkeit, sind wir kaum in der Lage, alle möglichen Implikationen selbst unserer eigenen Modelle zu bedenken und füllen unsere notwenigen Wissenslücken mit Hilfe der Fantasie.

 

Unsere Philosophen mögen unseren Wissenssprozeß beschreiben als einen auf die „Wahrheit“ zu. In Wirklichkeit spricht vieles dafür, daß es genau umgekehrt ist, nicht auf die Zukunft zu, sondern von der Vergangenheit mit seinen Irrtümern weg.

 

So sind die einzigen Gewißheiten unseres Wissens das Wissen, was an unseren früheren Vorstellungen und festen Überzeugungen falsch war. Was wir an ihre Stelle setzen, ist zwar in der Regel besser durch Tatsachenbeobachtungen belegt, bewährt sich in der Wirklichkeit besser, und ist doch nur der Irrtum von morgen.

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vor 2 Stunden schrieb iskander:

Hier stellt sich (erneut) die Frage, ob Aussagen so einfach in "positive" und "negative" Behauptungen separieren lassen.

Hier gehe ich noch einen Schritt weiter und behaupte, es kommt auf die Position, den Standpunkt an.

Das Beispiel von @Marcellinus mit Sonne und Erde ist entweder grottenschlecht - oder aber geradezu genial!

 

Aus der Sicht von Abermilliarden irdischer Beobachter wandert die Sonne über den Himmel. Mit der Annahme, die Sonne würde um die Erde kreisen, kamen die Menschen jahrtausendelang aus - und dies ist immer noch das einfachste und hilfreichste Modell für den Alltag!

Erst, als man versuchte, die Planetenbahnen zu erklären, kam man mit dem geozentrischen Weltbild an seine Grenzen. Die Planetenbahnen lassen sich am einfachsten erklären, wenn man den irdischen Bezugspunkt verlässt und sich gedanklich (da war noch niemand!) auf die Achse des Sonnensystems setzt. Dann werden aus den komplizierten Epizyklen im geozentrischen Weltbild einfache Ellipsen im heliozentrischen Weltbild.

Genau genommen sind beide Weltbilder ganz klassische Halbwahrheiten: In Wirklichkeit kreisen Sonne und Erde um einen gemeinsamen Mittelpunkt - der sich auf ihrer Verbindungsachse befindet und das Verhältnis ihrer Abstände entspricht dem umgekehrten Verhältnis ihrer Massen (besagt die klassische Physik).

Für einen Beobachter aus einer anderen Galaxie kreist unser ganzes Sonnensystem langsam um das Zentrum unserer Milchstraße...

 

'Wahr' oder 'Falsch' ist damit auch eine Frage des Standpunktes.

 

Noch ein Beispiel: Sowohl die Relativitätstheorie als auch die Quantenphysik erklären die Welt besser als die klassische Physik. Aber wer kennt die schon wirklich? Wenn man nicht gerade Astronomie oder Ähnliches auf hohem Niveau treiben will, dann kommt man gut ohne aus - auch wenn die Aussagen der klassischen Physik (zu) genau genommen 'falsch' sind.
Irgend ein berühmter Elementarteilchenphysiker sagte mal: Wir verstehen immer besser, was die Welt im innersten zusammenhält - aber immer weniger verstehen, was wir da herausgefunden haben.

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So ist zwar die Erde keine Scheibe, aber eben auch keine Kugel, deren Form an die Stelle der Scheibe gesetzt wurde, und die die Globen in in den Schulklassen vorgaukeln.

 

Und wir wissen zwar, dass die Sonne nicht um die Erde kreist, aber die Sonne steht nicht still im Zentrum des Sonnensystems, und die Erde umrundet die Sonne auch nicht in einer Kreisbahn, wie man heute weiss. Und auch dieses Wissen ist nicht endgültig.

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Am 2.10.2023 um 13:32 schrieb Werner001:

Natürlich ist immer Wissen nötig. Aber schon ein geringes Teilwissen kann ausreichen, eine Annahme zu falsifizieren. Für eine Verifizierung ist dagegen immer das vollständige Wissen nötig

 

Werner

 

Ich bin mir nicht ganz sicher, was ein "geringes Teilwissen" und ein "vollständiges Wissen" hier bedeuten, aber vielleicht adressiert meine Antwort an Marcellinus auch Deinen Beitrag.

 

Am 2.10.2023 um 14:11 schrieb Marcellinus:

Im Verlauf dieses Prozesses machen wir immer wieder Beobachtungen, die mit unseren gedanklichen Modellen in Widerspruch stehen und diese damit zum Scheitern bringen. Sicher ist, daß diese alten Modelle falsch sind. Die neuen Modelle mögen besser sein, wie lange sie halten, wissen wir nicht, aber die Erfahrung hat uns gelehrt, daß sie es nicht ewig tun.

 

Wenn die Falsifizierung sicher sein soll, müssen unsere Beobachtungen, mit denen wir die alten Modelle falsifizieren, aber sicher sein! Sind diese Beobachtungen, die unseren Modellen widersprechen, unsicher, so ist auch die Widerlegung unsicher. Und diese Beobachtungen beinhalten doch auch etwas "Positives" oder setzen es voraus. Dazu gleich mehr:

 

Am 2.10.2023 um 13:42 schrieb Marcellinus:

Insofern ist die Erkenntnis der Falschheit bestimmter Vorstellung zwar meistens mit dem Erwerb neuen, positiven Wissens verbunden, aber während dieses positive Wissen vorläufig ist, ist das negative endgültig.

 

Machen wir das an einem Beispiel fest. Wir finden durch genaue Messungen heraus, dass sich nicht die Sonne relativ zu den Fixsternen bewegt, sondern die Erde, und zwar um die Sonne herum (Parallaxe). Können wir uns sicher sein, dass unsere Messung richtig ist, dann können wir uns auch sicher sein, das die Sonne nicht um die Erde kreist - aber eben auch, dass umgekehrt die Erde durchaus um die Sonne kreist. Können wir uns allerdings nicht sicher sein, dass wir die Parallaxe richtig bestimmt haben oder dass aus ihr folgt, was wir schlussfolgern, dann steht nicht nur die "positive" Erkenntnis, dass die Erde um die Sonne kreist, infrage, sondern auch die "negative" Erkenntnis, dass die Sonne nicht um die Erde kreist.

 

Bei Popper verhält es sich, wenn ich ihn richtig verstehe, so, dass er durchaus von der sicheren Erkennbarkeit einzelner Tatsachen ausgeht, nicht aber von der sicheren Erkennbarkeit allgemeingültiger Gesetze. (Anders macht es auch wenig Sinn; eine schere Falsifizierung erfordert sichere Tatsachen.)

Demnach würde also die Beobachtung der Parallaxe durchaus bedeuten, dass zum Zeitpunkt der Messung die Erde um die Sonne kreist. Ein allgemeines Gesetz, wonach die Sonne immer um die Erde kreist, wäre damit widerlegt. Andererseits wäre aber kein allgemeines Gesetz begründet, wonach die die Erde immer um die Sonne kreist. Letzteres wäre nur eine Annahme, die potentiell widerlegbar bleibt.

 

Ein Problem ergibt sich allerdings dann, wenn eine Falsifizierung bestimmter Gesetze andere allgemeine Gesetze voraussetzt. Die Falsifizierung des geozentrischen Weltbildes setzt beispielsweise bestimmte optische Gesetze voraus, wenn wir mit der Parallaxe argumentieren. Wenn wir anders argumentieren können - etwa mit der Masse von Sonne und Erde und den Gesetzen der Gravitation, setzt dies eben voraus, dass die Gesetze der Gravitation (zumindest annäherungsweise) gelten.

Und wenn wir mithilfe eines Geigerzählers die Annahme, dass H2O radioaktiv ist, falsifizieren, setzt dies doch ebenfalls zahlreiche "Annahmen" voraus, auch "gesetzmäßige". 

 

Wie weit kommt man bei der Falsfizierung allgemeingültiger Gesetze, ohne die Gültigkeit anderer allgemeingültiger Gesetz vorauszusetzen?

 

 

Am 2.10.2023 um 14:11 schrieb Marcellinus:

So sind die einzigen Gewißheiten unseres Wissens das Wissen, was an unseren früheren Vorstellungen und festen Überzeugungen falsch war.

 

Aber sind das nicht oft zwei Seiten einer Medaille? Wenn wir mit hoher Sicherheit "negativ" wissen, dass die Erde nicht 6.000 Jahre alt oder jünger ist, dann wissen wir wie gesagt doch auch "positiv" mit hoher Sicherheit, dass sie älter ist. (Genau die Gründe, die für ein hohes Alter der Erde sprechen, sind es ja, die die Annahme, die Erde sei noch sehr jung, falsifizieren.)

 

Zitat

Was wir an ihre Stelle setzen, ist zwar in der Regel besser durch Tatsachenbeobachtungen belegt, bewährt sich in der Wirklichkeit besser, und ist doch nur der Irrtum von morgen.

 

Je genauer und "vielsagender" die Modelle sind, desto höher die Wahrscheinlichkeit eines Irrtums. Aber je mehr wir von umfassenden komplexen Modellen und ihren Details weggehen, schwindet dann nicht auch umso mehr dieses Problem? Unsere Vorstellungen über die Sonne mögen in vielerlei Hinsicht unvollkommen und falsch sein. Aber sind Annahmen wie die, dass die Sonne in etwa diese und jene Masse und diesen und jenen Durchmesser hat und etwas diese und jene Energie freisetzt, nur die Irrtümer von morgen?

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vor 8 Minuten schrieb iskander:

Ich bin mir nicht ganz sicher, was ein "geringes Teilwissen" und ein "vollständiges Wissen" hier bedeuten

Simples Beispiel: Galilei war natürlich weit davon entfernt, vollständiges Wissen über das Universum zu besitzen, aber das geringe Teilwissen, dass die Jupitermonde um den Jupiter kreisen, reichte aus, das geozentrische Weltbild, bei dem alles um dieErde kreist, zu widerlegen 

 

Werner

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Am 2.10.2023 um 15:19 schrieb Moriz:

Hier gehe ich noch einen Schritt weiter und behaupte, es kommt auf die Position, den Standpunkt an.

Das Beispiel von @Marcellinus mit Sonne und Erde ist entweder grottenschlecht - oder aber geradezu genial!

 

Deinen Beitrag im Detail zu würdigen, wäre eine spannende, aber wohl auch langwierige Angelegenheit. Es möge der Hinweis genügen, dass man eben erst einmal die mögliche Ambiguität von Begriffen klären muss, um Sachfragen beantworten zu können, und dass die (jeweilige) Position der Sonne diejenige der Erde maßgeblich beeinflusst, während die Umkehrung nur minimal gilt.

 

Eines der von Dir angesprochenen Probleme besteht m.E. darin, wenn man eben zu weit über die empirischen Belege hinausgeht. Die Parallaxe etwa beweist erst einmal, dass die Erde in Relation zu den "naheliegenden" Fixsternen um die Sonne kreist, nicht, dass sie es in einem "absoluten" Sinne täte. Wenn man es dabei belässt, dann bleibt man vermutlich frei von einem Irrtum. Entsprechend kann man auch aus den Gesetzen der Gravitation (oder der allgemeinen Relativitätstheorie) nur ableiten, dass die Erde sich um die Sonne bewegt, soweit man zusätzliche Bewegungen, denen sowohl Erde wie auch Sonne unterliegen, "herausrechnet". Auch hier würde gelten: Belässt man es dabei, dürfte man im Recht sein (und wohl auch im Recht bleiben).

 

Am 2.10.2023 um 16:18 schrieb rince:

So ist zwar die Erde keine Scheibe, aber eben auch keine Kugel, deren Form an die Stelle der Scheibe gesetzt wurde, und die die Globen in in den Schulklassen vorgaukeln.

 

Ja, aber die Redeweise von "Kugel" ist m.E. doch nicht falsch, sondern eine sprachliche Vereinfachung, so wie wenn wir "kreisförmige" Gebilde als "Kreise" bezeichnen, auch wenn sie es im mathematischen Sinne nicht sind, eben weil sie nicht exakt sind.

 

Zitat

Und wir wissen zwar, dass die Sonne nicht um die Erde kreist, aber die Sonne steht nicht still im Zentrum des Sonnensystems, und die Erde umrundet die Sonne auch nicht in einer Kreisbahn, wie man heute weiss. Und auch dieses Wissen ist nicht endgültig.

 

Selbst wenn man nur das Sonnensystem isoliert betrachtet, kreist die Erde genau genommen ja auch nicht "um die Sonne", sondern um einen gemeinsamen Schweremittelpunkt des Sonnenensystems, der aber so nah am Zentrum der Sonne liegt, dass auch hier die vergröbernde Redeweise statthaft ist. Siehe ansonsten meine Antwort an Antwort an Moriz.

 

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Wir sehen diese Welt nicht, wie sie ist, sondern immer nur Bilder von ihr, zuerst die, die unser Gehirn produziert, dann die, die wir selbst entwerfen, gemeinhin Theorien genannt. Immer aber sind es Bilder von Zusammenhängen, nicht die Welt selbst. 

 

Nun erschließen sich manche Zusammenhänge von selbst. Ich kenne jedenfalls keine "Erklärung" sagen wir von Knochenbrüchen, die irgendwie von etwas anderem erzählt als eben von gebrochenen Knochen. Aber bei anderen Zusammenhängen taten sich die Menschen von Anfang an schwerer. Diese Welt wurde nun mal ohne Gebrauchsanweisung geliefert. 

 

Die ersten Erklärungsmodelle (Vorsicht, massive Vereinfachung!) übertrugen die Erklärungen, die Zusammenhänge, die die Menschen aus ihrer nächsten Umgebung kannten, auf die gesamte Natur und den Rest erklärte man sich mit purer Fantasie. Alles, was passierte und die Menschen direkt betraf, war von jemandem verursacht. Tiere, der Berg, der Fluß, das Feuer, alles konnte handeln, hatte Absichten und Ziele. 

 

Erst mit der Zeit lernten die Menschen, das Feuer zu beherrschen, Tiere zu zähmen, den Fluß einzudeichen, und aus magischen Erklärungen wurden realistischere. Je mehr man lernte, umso mehr Ideen scheiterten, und mußten durch realistischere ersetzt werden. Der Komparativ ist hier entscheidend.

 

Menschen wohnten zB. an einem Sumpf, es stank und die Menschen wurden krank. Die Menschen kamen durch die Krankheit mit der Wirklichkeit in Kontakt. Sie wußten, daß das Leben am Sumpf nicht gesund sein konnte, wußten aber nicht warum. Eine „negative“ Erkenntnis also. Die positive Erklärung dafür: man ging davon aus, daß es der Gestank sein mußte, der krank macht. Die Miasmen-Theorie war geboren, eine falsche Theorie, wie wir heute wissen.

 

Aber sie funktionierte! Man legte den Sumpf trocken, um den Gestank loszuwerden, und die Krankheiten wurden weniger. Wir wissen natürlich, daß es am Aussterben der Stechmücken lag, aber die Theorie hatte sich bewährt.

 

Erst im 19. Jh. lernten die Menschen auf die harte Art, daß man den Gestank beseitigen kann, indem man die Abwässer aus der Stadt in die Flüsse leitete, und die Krankheit, in diesem Fall die Cholera, wütete trotzdem, weil die Menschen aus eben diesen Flüssen ihr Trinkwasser nahmen.

 

Auch da wieder stieß man sich an der Wirklichkeit den Kopf, und den ersten Menschen dämmerte, daß es nicht der Gestank sein konnte, der krank machte, sondern etwas, das im Wasser war, man aber nicht sehen konnte. So entstanden im 19. Jh. die ersten großen Kanalisationen nach der Römerzeit. Aber bis man mit Entdeckung von Bakterien eine wirkliche, positive Erklärung bekam, dauerte es noch.

 

Es ist immer das gleiche Muster. Menschen erkennen ein Problem, weil die Welt nicht so ist, wie sie sich gedacht hatten. Sie stoßen sich also an der Wirklichkeit den Kopf. Damit entsteht eine „negative“ Erkenntnis, man erkennt, wie die Welt NICHT ist. Nun macht man sich auf die Suche nach einer „positiven“ Erklärung, und die ist eben mal mehr, mal weniger realistisch, einfach weil wir immer in unseren Erklärungen die Lücken unseres notwendig vorhandenen Nicht-Wissens mit Fantasie auffüllen, Fantasie-Erklärungen, die uns erst bei einer der nächsten Runden unseres Erkenntnisprozesses auf die Füße fallen, bzw. an den Kopf stoßen. Das ist der Grund, warum ich sage, daß wir nur in unseren „negativen“ Erkenntnissen wirklich sicher sein können.

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vor 5 Minuten schrieb Werner001:

Simples Beispiel: Galilei war natürlich weit davon entfernt, vollständiges Wissen über das Universum zu besitzen, aber das geringe Teilwissen, dass die Jupitermonde um den Jupiter kreisen, reichte aus, das geozentrische Weltbild, bei dem alles um dieErde kreist, zu widerlegen 

 

Werner

 

Ob das eine gute Widerlegung war, ist fraglich. Es war wohl eher ein Indiz als ein Beweis. Aber abgesehen davon wurde das ja eben auch positiv als Anhaltspunkt für das heliozentrischen Weltbild gewertet. Und soweit man das nur auf das Sonnensystem bezieht, war (und ist) die einzige sinnvolle Alternative zum geozentrischen Weltbild eben wohl in der Tat das heliozentrische.

Die eindeutigen und schlagenden Beweise wurden erst später präsentiert.

 

"Mit genaueren astronomischen Instrumenten als zu Galileis Zeiten konnte die Richtigkeit des heliozentrischen Systems, insbesondere die jährliche und die tägliche Bewegung der Erde, durch Messungen belegt werden. Die Bahnbewegung der Erde wurde 1725 von James Bradley durch die Entdeckung der Aberration und 1838 von Friedrich Wilhelm Bessel durch die Entdeckung der jährlichen Parallaxe der Sterne nachgewiesen."

https://de.wikipedia.org/wiki/Heliozentrisches_Weltbild

 

Und diese Art der Schlussfolgerung erfordert ein Wissen beispielsweise um optische Gesetze. Und sie spricht für die Richtigkeit des heliozentrischen Weltbildes (im eingeschränkten, relativierenden Sinne).

 

Und für kompliziertere Sachverhalte gilt wohl noch mehr, dass auch ein widerlegender Beweis "positives" Wissen voraussetzt. Je aufwendiger die Messung, je mehr "Theorie" hinter ihr steht, desto eindeutiger ist das.

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vor 7 Minuten schrieb Marcellinus:

Auch da wieder stieß man sich an der Wirklichkeit den Kopf, und den ersten Menschen dämmerte, daß es nicht der Gestank sein konnte, der krank machte, sondern etwas, das im Wasser war, man aber nicht sehen konnte. So entstanden im 19. Jh. die ersten großen Kanalisationen nach der Römerzeit. Aber bis man mit Entdeckung von Bakterien eine wirkliche, positive Erklärung bekam, dauerte es noch.

 

Sicher! Und wir wissen vieles über Bakterien nicht und mögen uns in manchen Details irren - aber ist die Theorie, dass die Cholera durch bestimmte Bakterien hervorgerufen wird, wirklich nur der "Irrtum von morgen"?

 

Zitat

Es ist immer das gleiche Muster. Menschen erkennen ein Problem, weil die Welt nicht so ist, wie sie sich gedacht hatten. Sie stoßen sich also an der Wirklichkeit den Kopf.

 

Ja, aber die Fälle, in denen man sich heute noch so offensichtlich und einfach den Kopf stößt wie in der Steinzeit, dürften heute zahlenmäßig begrenzt sein. In vielen Fällen heutzutage sieht eine Widerlegung einer Hypothese so aus, dass man komplizierte Beobachtungen oder Experimente veranstaltet, die wiederum selbst von vielen Annahmen abhängen...

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vor 11 Minuten schrieb iskander:

Sicher! Und wir wissen vieles über Bakterien nicht und mögen uns in manchen Details irren - aber ist die Theorie, dass die Cholera durch bestimmte Bakterien hervorgerufen wird, wirklich nur der "Irrtum von morgen"?

 

Wahrscheinlich nicht, genauso wie das geozentrische Weltbild oder die Vorstellung, dass die Erde eine Sphäre ist, sich nie als wirklicher Irrtum entpuppt hat, sondern nur als ungenau. Sie ist keine wirkliche (= perfekte) Sphäre, aber gewiss auch keine Scheibe; und nur weil wir ihre eigentliche Gestalt immer genauer, aber wohl nie ganz genau, beschreiben können, ändert das nichts daran, dass die Spären-Vorstellung der Realität viel, viel näher steht als die Scheiben-Vorstellung.

bearbeitet von Domingo
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Am 8.10.2023 um 22:29 schrieb Domingo:

 

Wahrscheinlich nicht, genauso wie das geozentrische Weltbild oder die Vorstellung, dass die Erde eine Sphäre ist, sich nie als wirklicher Irrtum entpuppt hat, sondern nur als ungenau. Sie ist keine wirkliche (= perfekte) Sphäre, aber gewiss auch keine Scheibe; und nur weil wir ihre eigentliche Gestalt immer genauer, aber wohl nie ganz genau, beschreiben können, ändert das nichts daran, dass die Spären-Vorstellung der Realität viel, viel näher steht als die Scheiben-Vorstellung.

 

Das ist natürlich auch eine Frage danach, was man genau mit welchem Grad an Verbindlichkeit behauptet, und ob man sozusagen den "Kern" eines Modells von dessen "Ummantelung" unterscheidet. Wenn man ein Modell nur dann als widerlegt betrachtet, wenn der "Kern" sich als falsch herausstellt und den "Kern" sozusagen klein "klein hält", hat man sicher eine bessere Chance, einer Widerlegung zu entgehen.

 

Sagt man, dass Cholera-Bakterien die Cholera verursachen und behauptet man ansonsten über (Cholera-)Bakterien nur, was in jedem Schüler-Lexikon als gesicherte Tatsache dargestellt wird, ist die Chance, dass man recht behält, vermutlich groß. Wenn man hingegen ein komplexes Modell von Bakterien vertritt, wie es in der Forschungs-Literatur vertreten wird, ist das Risiko, dass man sich in manchen Fragen irrt und das Gesamt-Modell streng genommen also falsifiziert wird, sicher höher.

bearbeitet von iskander
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@Marcellinus

 

Ich antworte auf diesen Beitrag von Dir mal hier, da es sonst nicht nur sehr ins OT geht, sondern es auch noch ein sehr verstreutes OT wird. ;)

 

Am 20.11.2023 um 11:24 schrieb Marcellinus:

Der Grund ist relativ einfach. Die Wissenssoziologie und besonders Norbert Elias (der sie nicht erfunden, aber weitergeführt hat) versucht sich in einer grundlegende Theorie der Entwicklung realistischen Wissens über diese Welt.  [...]

 

Als Kontrast vielleicht dazu ein Zitat eines Philosophen über sein Fach: 

 

"Die Philosophie unterscheidet sich einerseits von den Naturwissenschaften und andererseits von der Mathematik. Im Unterschied zu den Naturwissenschaften stützt sie sich nicht auf Experimente und Beobachtungen, sondern allein auf das Denken. Im Unterschied zu Mathematik kennt sie keine formalen Beweisverfahren. Man philosophiert einzig, in dem man fragt, argumentiert, bestimmte Gedanken ausprobiert und mögliche Argumente gegen sie erwägt, und darüber nachdenkt, wie unsere Begriffe wirklich beschaffen sind. […] Je grundlegender die Ideen sind, die wir zu erforschen versuchen, umso weniger Werkzeug haben wir hierfür zur Verfügung. Nur weniges darf angenommen oder vorausgesetzt werden. Die Philosophie ist daher eine etwas schwindelerregende Tätigkeit, und nur wenige ihrer Ergebnisse bleiben langfristig unangefochten.“

(Thomas Nagel 1987: Was bedeutet das alles?, S. 8f)

 

Abgesehen davon, dass ich den etwas "skeptischen" Drall von Nagel so nicht übernehmen würde, jedenfalls nicht in dieser Allgemeinheit, hat Nagel sicher einen wichtigen und berechtigten Punkt angesprochen: Die Philosophie besitzt keine empirischen Beweisverfahren. Das heißt natürlich nicht, dass ein "anständiger" Philosoph die relevanten empirischen Daten und Erkenntnisse anderer Disziplinen ignorieren würde oder ignorieren dürfte.  Er muss sie vielmehr, soweit sie relevant sind, berücksichtigen. Aber die eigentliche philosophische These selbst geht zumindest über das empirisch Entscheidbare hinaus. Ist eine Frage empirisch entscheidbar, gehört sie nicht in die Philosophie, sondern in eine geeignete empirische Disziplin. Ist eine Frage hingegen empirisch nicht entscheidbar und gehört in gewisse Themenfelder, rechnet man sie der Philosophie zu, was auch m.E. auch sinnvoll ist.

 

Auf dieser Grundlage stellt sich dann für mich aber die Frage, ob wirklich (nahezu) alle Deine Äußerungen "unphilosophisch" sind in dem Sinne, dass sie der Sache nach zu nicht-philosophischen Disziplinen gehören bzw.  (und sei es indirekt) empirisch gerechtfertigt oder überprüft werden können.

 

Für einen Teil Deiner Aussagen gilt das sicher, das bestreite ich nicht. Aussagen darüber, wie sich das Wissen und später die Wissenschaft im Laufe der Geschichte entwickelt haben, gehören zur (Wissenschafts)-Geschichtsschreibung. Aussagen darüber, wie Menschen sich de facto organisieren und vorgehen, wenn sie Wissenschaft betreiben, gehören zur (Wissenschafts)soziologie.

 

Aber was ist mit ganz grundsätzlichen Aussagen dazu, was der Mensch überhaupt wissen kann? Wo die Wissenschaft nicht nur bisher an ihre Grenzen gestoßen ist, sondern aufgrund ihrer Konstitution an Grenzen stoßen muss usw? In welchem Verhältnis Wissenschaft und Wahrheit stehen (und sei das Verhältnis womöglich negativ). 

 

Sind solche Fragen (potentieller) Gegenstand der Sozialwissenschaften oder anderer empirischer Disziplinen? Lassen sie sich mithilfe von Beobachtungen und Experimenten entscheiden?

 

Es geht hier wie gesagt nicht darum, dass Antworten auf entsprechende Fragen empirisch informiert sein sollten. Das würde auch kein Philosoph abstreiten. Es geht darum, ob die entsprechenden Fragen von einer empirisch arbeitenden Disziplin wie etwa Geschichtsschreibung oder Soziologie mithilfe ihrer spezifischen Mittel selbst beantwortet werden können.

bearbeitet von iskander
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vor 1 Stunde schrieb iskander:

Abgesehen davon, dass ich den etwas "skeptischen" Drall von Nagel so nicht übernehmen würde, jedenfalls nicht in dieser Allgemeinheit, hat Nagel sicher einen wichtigen und berechtigten Punkt angesprochen: Die Philosophie besitzt keine empirischen Beweisverfahren. Das heißt natürlich nicht, dass ein "anständiger" Philosoph die relevanten empirischen Daten und Erkenntnisse anderer Disziplinen ignorieren würde oder ignorieren dürfte.  Er muss sie vielmehr, soweit sie relevant sind, berücksichtigen. Aber die eigentliche philosophische These selbst geht zumindest über das empirisch Entscheidbare hinaus. Ist eine Frage empirisch entscheidbar, gehört sie nicht in die Philosophie, sondern in eine geeignete empirische Disziplin. Ist eine Frage hingegen empirisch nicht entscheidbar und gehört in gewisse Themenfelder, rechnet man sie der Philosophie zu, was auch m.E. auch sinnvoll ist.

 

Soweit sind wir uns einig. ;)

 

vor 1 Stunde schrieb iskander:

Auf dieser Grundlage stellt sich dann für mich aber die Frage, ob wirklich (nahezu) alle Deine Äußerungen "unphilosophisch" sind in dem Sinne, dass sie der Sache nach zu nicht-philosophischen Disziplinen gehören bzw.  (und sei es indirekt) empirisch gerechtfertigt oder überprüft werden können.

 

Na, schauen wir mal.

 

vor 1 Stunde schrieb iskander:

Für einen Teil Deiner Aussagen gilt das sicher, das bestreite ich nicht. Aussagen darüber, wie sich das Wissen und später die Wissenschaft im Laufe der Geschichte entwickelt haben, gehören zur (Wissenschafts)-Geschichtsschreibung. Aussagen darüber, wie Menschen sich de facto organisieren und vorgehen, wenn sie Wissenschaft betreiben, gehören zur (Wissenschafts)soziologie.

 

Auch hier volle Zustimmung (was dich sicherlich nicht verwundert).

 

vor 1 Stunde schrieb iskander:

Aber was ist mit ganz grundsätzlichen Aussagen dazu, was der Mensch überhaupt wissen kann? Wo die Wissenschaft nicht nur bisher an ihre Grenzen gestoßen ist, sondern aufgrund ihrer Konstitution an Grenzen stoßen muss usw? In welchem Verhältnis Wissenschaft und Wahrheit stehen (und sei das Verhältnis womöglich negativ). 

 

Sind solche Fragen (potentieller) Gegenstand der Sozialwissenschaften oder anderer empirischer Disziplinen? Lassen sie sich mithilfe von Beobachtungen und Experimenten entscheiden?

 

Es läßt sich feststellen, daß die Aussagen theoretisch-empirischer Wissenschaften Modelle aus von Menschen gemachten Symbolen sind, egal ob sprachlicher oder numerischer Art. Das ist etwas grundsätzlich anderes als die Wirklichkeit, die man mit diesen Modellen zu erfassen versucht, die eben nicht aus solchen Modellen bestehen. Damit kann es keine 1-zu-1-Entsprechung geben, keine absolute und endgültige Beschreibung der Wirklichkeit, für die der Begriff "Wahrheit" steht. Das läßt sich eigentlich ziemlich leicht sehen, und ist auch empirisch zu belegen. Interessanterweise widerspricht mir an dieser Stelle inhaltlich auch kaum jemand. Stattdessen wird versucht, die Wahrheitsbegriff irgendwie so aufzuweichen und unscharf zu machen, damit er in dieser Verkleidung irgendwie gerettet werden kann. 

 

vor 1 Stunde schrieb iskander:

Es geht hier wie gesagt nicht darum, dass Antworten auf entsprechende Fragen empirisch informiert sein sollten. Das würde auch kein Philosoph abstreiten. Es geht darum, ob die entsprechenden Fragen von einer empirisch arbeitenden Disziplin wie etwa Geschichtsschreibung oder Soziologie mithilfe ihrer spezifischen Mittel selbst beantwortet werden können.

 

Ich denke, nach dem, was ich oben geschrieben habe, ja. Das sind übrigens keine Aussagen der Wissenschaften über die Grenzen des Wissens, nur die gut begründete Vermutung, daß, auch wenn unser Wissenserwerb genauso wenig ein absolutes Ende haben muß, wie er keinen absoluten Anfang hatte, wir doch nie "alles" über diese Universum wissen werden. Dazu ist es einfach zu groß, und wir zu kurzlebig. ;)

 

Wissenschaftliche Erkenntnisse sind immer vorläufig, aber sie beruhen wenigstens auf empirischen Daten (oder sollten es zumindest). Philosophie dagegen, und mit ihr die Philosophen, fühlen sich berechtigt und befähigt, definitive Aussagen über Fragen zu machen, die sich empirisch nicht belegen lassen. Und auf welcher Grundlage? Nur auf Grund des Denkens des Philosophen! Mithin reiche Fantasie! Die noch dazu den Nachteil hat, daß der Philosoph, in Ermangelung objektiver Tatsachen, sich, sein Denken und seine Gefühle zum letztlich Wahrheitskriterium erhebt, in sich "das moralische Gesetz" und über sich "nur den bestirnten Himmel". 

 

Wo die Religionen ihre "Erkenntnisse" aus sogenannten Offenbarungen imaginieren, gesandt von als übermenschlich gedachten fiktiven Wesen, suchen die Philosophen die "Wahrheit" in der subjektiven Welt des eigenen Denkens. Aber egal ob Religion oder Metaphysik, Illusionen sind beides. 

 

Diese Welt kommt nun mal ohne Gebrauchsanweisung daher. Wir können uns in ihr nur zuverlässig orientieren, wenn wir unsere gedanklichen Modelle immer wieder an eben dieser Wirklichkeit überprüfen. Nur so haben wir eine Chance, die alten Illusionen zu überwinden. Und uns bemühen, daß die neuen, die sicherlich kommen werden, kleiner sind als die alten.

 

Das wird aber nur gelingen, wenn wir uns strikt daran halten, unsere Modelle in enger Abstimmung mit den beobachtbaren Tatsachen zu entwickeln. Daß bei vielen, gerade in "trendigen" Bereichen der akademischen Welt, die Worte "Tatsache" und "Beobachtung" einen schlechten Klang hat, hat schon jetzt viele Universitäten zu Recht in Verruf gebracht. 

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Am 2.10.2023 um 13:42 schrieb Marcellinus:

Sagst doch einfacher: der menschliche Wissenerwerb, du kannst es auch Erkenntnisprozess nennen, ist eben ein solcher, ein Prozess, in dessen Verlauf Menschen, gedankliche Modelle erstellen, um Tatsachenbeobachtungen in einen Zusammenhang zu bringen. Diese Modelle dienen dazu, sich in dieser Welt zu orientieren.

Planung ersetzt den Zufall durch den Irrtum.

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@Marcellinus

 

Also, ich splitte meine Antwort mal aus Gründen der besseren Übersichtlichkeit in zwei Teile. :D

 

 

vor 21 Stunden schrieb Marcellinus:

Es läßt sich feststellen, daß die Aussagen theoretisch-empirischer Wissenschaften Modelle aus von Menschen gemachten Symbolen sind, egal ob sprachlicher oder numerischer Art. Das ist etwas grundsätzlich anderes als die Wirklichkeit, die man mit diesen Modellen zu erfassen versucht, die eben nicht aus solchen Modellen bestehen. Damit kann es keine 1-zu-1-Entsprechung geben, keine absolute und endgültige Beschreibung der Wirklichkeit, für die der Begriff "Wahrheit" steht. Das läßt sich eigentlich ziemlich leicht sehen, und ist auch empirisch zu belegen. Interessanterweise widerspricht mir an dieser Stelle inhaltlich auch kaum jemand. Stattdessen wird versucht, die Wahrheitsbegriff irgendwie so aufzuweichen und unscharf zu machen, damit er in dieser Verkleidung irgendwie gerettet werden kann. 

 

Die Frage ist halt hier, ob man den Begriff "Wahrheit" nur dann verwenden will, wenn man ein umfassendes Modell der Wirklichkeit im Auge hat. Es ist beispielsweise unzweifelhaft, dass wir keineswegs alles über unsere Erde wissen. Wenn man also alle gängigen Vorstellungen über die Erde in einem Modell zusammenfasst, wäre dieses Modell also unvollständig. Wenn man keine Vollständigkeit behauptet, sondern die Unvollständigkeit einräumt, wäre das Modell deswegen allerdings nicht falsch oder fehlerhaft, sondern eben nur lückenhaft.

Das ist aber nicht alles; ich gehe sehr davon aus, dass nicht alle gängigen (wissenschaftlichen) Vorstehlungen über die Erde zutreffend sind, oder anders formuliert: dass also einige falsch sind. Ein Modell, das alle gängigen wissenschaftlichen Überzeugungen über die Erde zu einer Gesamtheit verbindet, wäre daher zumindest in einigen Details sehr wahrscheinlich falsch. (Und damit streng logisch gesehen "überhaupt" falsch, denn selbst eine eine einzelne nebensächliche falsche Aussage macht eine Menge/Konjunktion von Aussagen 100.000 Aussagen falsch.)

 

Allerdings halte ich es für sehr plausibel, dass zumindest ein Teil unserer Vorstellungen über die Erde zutreffend ist. Beispielsweise gehe ich davon aus, dass der Erdumfang circa 40.000 km beträgt. Was nun "circa" genau heißt, und an welchen Stellen der Umfang vielleicht etwas abweicht, müsste man mit einem Geophyiker besprechen. Aber wenn man die Aussage so modifiziert, dass eine Toleranz von ein paar Dutzend oder vielleicht ein paar Hundert Kilometer eingeräumt wird, dürfte dieses Problem behoben sein. Und mithilfe moderner Vermessungsverfahren könnte man vermutlich noch zu einem viel genaueren Bild kommen - so genau, dass kaum jemand mehr über die restlichen Ungenauigkeiten klagen dürfte.

Wenn das  Wort "ungefähr" dennoch ein Problem im Hinblick auf den Wahrheitsbegriff sein sollte, könnte man auch Aussagen tätigen, in denen kein "ungefähr" steht, zum Beispiel "Platin hat eine höhere Dichte als Gold".

 

Und solche Aussagen, die "zutreffend" sind (und teilweise durchaus nicht banal) würde ich eben als "wahr" bezeichnen. Begriffe wie "wahr" und "falsch" gebrauche ich also nicht nur im Hinblick auf "umfassende" Modelle der Wirklichkeit, sondern auch im Hinblick auf Aussagen, die einzelne Aspekte der Wirklichkeit zu beschreiben beanspruchen.

 

Damit folge ich m.E. auch dem allgemeinen Sprachgebrauch. Natürlich kann man auch einen anderen Sprachgebrauch pflegen (und vielleicht ist dieser sogar sinnvoller, darüber könnte man streiten). Aber das sind eben "linguistische" Fragen und berühren nicht die eigentliche Sache selbst. Und insofern frage ich mich, ob wir im Hinblick auf meine gerade getätigten Ausführungen überhaupt inhaltlich (statt nur "semantisch") auseinanderliegen.

 

vor 21 Stunden schrieb Marcellinus:

Ich denke, nach dem, was ich oben geschrieben habe, ja. Das sind übrigens keine Aussagen der Wissenschaften über die Grenzen des Wissens, nur die gut begründete Vermutung, daß, auch wenn unser Wissenserwerb genauso wenig ein absolutes Ende haben muß, wie er keinen absoluten Anfang hatte, wir doch nie "alles" über diese Universum wissen werden. Dazu ist es einfach zu groß, und wir zu kurzlebig. ;)

 

Verhält es sich nach Deiner Auffassung aber nicht so, dass selbst dann, wenn wir zufällig die Wahrheit hätten, nicht wüssten, dass wir sie hätten - weil wir eben nie ausschließen können, dass die Erkenntnisse von morgen das vermeintliche positive Wissen von heute falsifizieren werden? Und eine Wahrheit, von der man nur hofft, dass sie wahr ist, ist eben kein Wissen.

 

Falls ich Deinem Standpunkt damit gerecht werde: Wäre das nicht schon schon eine Aussage bzw. Erörterung, die über die reinen Sozialwissenschaften oder die reine Geschichtsschreibung hinausgeht? Hier würde doch etwas "Grundsätzliches" über das Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit und zum Wissen ausgesagt, etwas über "absolute"  Grenzen - und zwar auf der Grundlage allgemeiner methodischer Überlegungen, nicht auf der Grundlage historischer oder soziologischer Erkenntnis.

 

Betrachten wir nochmals einen spezifischen Aspekt, nämlich Deine Überzeugung, dass die Wissenschaft nur "positive" und keine "negativen" Sachverhalte erkennen bzw. beweisen kann.

Zwar tätigen die Natur- und Sozialwissenschaften natürlich "positive" und "negative" Aussagen (in diesem Sinne), etwa wenn es um Behauptungen der Existenz oder der Nicht-Existenz geht von Dingen oder Phänomenen geht.

 

Aber bereits die explizite Unterscheidung zwischen "positiven" und "negativen" Sachverhalten dürfte kaum etwas sein, womit sich beispielsweise Astrophysiker oder auch Soziologen "von Amts wegen" beschäftigen würden. Und das gilt erst recht für die genauere Definition und Bestimmung dieser Konzepte oder für die Erörterung ihrer Relevanz für Wissen und Wissenschaft. Schließlich handelt sich hier ja auch weder um "natürliche" Objekte (wie etwa Planeten oder Pflanzen) noch um soziale Phänomene (wie etwa institutionelle Machtverhältnisse). Hier geht es vielmehr um "Grundkategorien" des Denkens und der Wirklichkeit. Und da bringen einem weder ein Labor noch eine sozialwissenschaftliche Feldstudie weiter, sondern in erster Linie das, was man (potentiell missverständlich) als begrifflich-analytisches Denken bezeichnen könnte.

 

Entsprechendes gilt m.E. auch für weitere sachlich relevante Fragen in diesem Zusammenhang, deren Klärung m.E. ebenfalls nur durch eine Herangehensweise, wie die Philosophie sie pflegt, möglich ist:

 

- Abgesehen von den offensichtlichen Fällen (Giraffen existieren, Einhörner nicht): Was macht einen "positiven" Sachverhalt "positiv" und einen "negativen" Sachverhalt eben "negativ"? Ist beispielsweise die "Brennbarkeit" eines Stoffes eine "positive" Eigenschaft oder nicht? Oder ist generell eher "Veränderbarkeit" oder "Stabilität" positiv? Oder was ist mit einem Sachverhalt wie "X ist giftig"?

 

- Lassen sich alle (natur)wissenschaftlichen Aussagen in diesem Sinne dichotomisch in "positive" und "negative" unterteilen? Oder gibt es Fälle, die aus dem Raster fallen? Was ist beispielsweise mit "komperativen" Aussagen wie "X ist größer/älter/heller als Y" (und äquivalent: "Y ist kleiner/jünger/dunkler/ als X")?

Damit zusammenhängend: Gibt es Phänomene, bei denen positive und negative Aspekte vielleicht eine untrennbare Einheit bilden ("Die Erde ist älter als 6.000 Jahre", "Der Mount Everest ist höher als jeder andere irdische Berg".)

 

- Gibt es Fälle, in denen "negative" Aussagen "beweistechnisch" auf "positiven" beruhen? Ist es nicht beispielsweise so, dass wir wissen, dass die Erde keine Scheibe ist, weil wir "positiv" wissen, dass sie gekrümmt bzw. annähernd kugelförmig ist (Erdschatten; Schiffe, bei denen erst der untere Teil "verschwindet", wenn sie sich entfernen; Beobachtungen durch Flugzeuge und Satelliten usw)? Wie soll man solche Fälle einordnen?

 

- Ist es nicht oft so, dass eine "negative" Aussage oftmals nur im Rahmen "positiver" Aussagen möglich ist? Hängt die "negative" Erkenntnis, dass die Probe X nicht radioaktiv ist, nicht von zahlreichen "positive" Erkenntnissen (insbesondere der Kernphysik) ab? Werden viele "negative" Aussagen nicht ebenfalls zweifelhaft, wenn die positiven zweifelhaft sind?

 

Wir hatten das schon angesprochen, und mir geht es jetzt nicht darum, diese Fragen zu klären. Aber damit Deine These sozusagen zu einer echten ausformulierten Theorie würde, an der auch Einwände abprallen, müsste man solche Fragen klären. Oder man müsste zumindest genauer definieren, was denn nun "positive" und "negative" Sachverhalte genau sind - und es wäre ggf. die Sinnhaftigkeit einer entsprechenden Definition darzulegen.

 

Alles das aber ist sozusagen "reines Denken" - und nichts davon wird ein Naturwissenschaftler, Historiker oder Soziologe vernünftigerweise als seine genuine fachliche Aufgabe begreifen können.

 

Natürlich bedeutet das nicht, dass man bei der Klärung entsprechender Fragen nicht auf die Empirie schauen sollte. Aber man blickt hier doch in einer ganz anderen Weise als der empirisch arbeitende Wissenschaftler auf das Beobachtbare - u.a. ist es viel abstrakter.

Der Chemiker beispielsweise hält einen Soff ins Feuer, um zu testen, ob er brennt. Marcellinus hingegen betrachtet das entsprechende Experiment höchstens um zu sehen, ob es im Einklang mit seiner These steht, dass die Wissenschaft nur "negative" Erkenntnisse liefert (soweit man aus einem chemischen Experiment entsprechende Schlüsse ziehen kann).

Der Astrophysiker testet, ob es Wasser auf dem Mars gibt und schickt dort eine Sonde hin - und findet Wasser. Iskander hingegen verwendet das Beispiel als Argument für die viel allgemeinere bzw. abstraktere These, dass die Wissenschaft eben doch auch "positive" Erkenntnisse generieren könne.

 

So viel Bezug auf die "Empirie" gehört nun aber durchaus auch zur Philosophie (und ein Philosophie-Begriff, der das negieren würde, würde an der realen Philosophie vorbeigehen und wäre unangemessen).

Und damit wäre ich bei meinem Punkt: Die Überlegungen, die Du zur Wissenschaft anstellst und bei denen es um die "Natur der Naturwissenschaft", um das Verhältnis von Wissenschaft und Wahrheit oder um "positive" und "negative" Sachverhalte (und deren Relevanz für den Wissens-Begriff) geht, gehören nicht in die Naturwissenschaften. Die Naturwissenschaften befassen sich mit entsprechenden Fragen thematisch nicht, und ihre Methoden wären dazu auch nicht geeignet.

Deine diesbezüglichen Aussagen gehören jedenfalls zum Teil aber auch nicht in die Sozialwissenschaften. Denn sie sich nicht auf die sozialen Bedingungen und sozialen Begleiterscheinungen von Wissen, (fehlender) Wahrheit, Wissenschaft, "positiven" und "negativen" Aussagen usw., sondern unmittelbar auf die gerade genannten Phänomene selbst.

Daher fallen manche Deiner Äußerungen nach dem allgemeinen (und hier durchaus sinnvollen) Sprachgebrauch meines Erachtens in die Rubrik "Philosophie".

 

Sollte all das Dich nicht überzeugen, möchte ich Dich darauf hinweisen, dass Du noch nie ein naturwissenschaftliches Experiment oder ein sozialwissenschaftliche Feldforschung vorgeschlagen hast, um Deine vorgenannten Thesen zu beweisen (und auch ich meinerseits habe in der Auseinandersetzung nie etwas Entsprechendes angeboten). Es gibt auch kein entsprechendes Experiment.

Stattdessen beruhen Deine (und meine) Argumente eben auf dem, was ich wertneutral als "vernünftige Überlegungen" bezeichnen möchte.

Dass diese Überlegungen auf die Wissenschaft, ihre sozialen Bedingungen und ihre Geschichte Bezug nehmen, bezweifle ich keineswegs. Sie tun das aber eben in der abstrakten von mir beschriebenen Weise, wie man das auch in der Wissenschaftsphilosophie hält, und eben nicht im Sinne einer empirischen Wissenschaft selbst.

 

bearbeitet von iskander
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Und her Teil 2 :D

 

vor 21 Stunden schrieb Marcellinus:

Philosophie dagegen, und mit ihr die Philosophen, fühlen sich berechtigt und befähigt, definitive Aussagen über Fragen zu machen, die sich empirisch nicht belegen lassen. Und auf welcher Grundlage? Nur auf Grund des Denkens des Philosophen! Mithin reiche Fantasie! Die noch dazu den Nachteil hat, daß der Philosoph, in Ermangelung objektiver Tatsachen, sich, sein Denken und seine Gefühle zum letztlich Wahrheitskriterium erhebt, in sich "das moralische Gesetz" und über sich "nur den bestirnten Himmel". 

 

Das alles setzt aber voraus, dass es eben keine Fragen gibt, die sich sinnvollerweise mit "reinem Denken" beantworten lassen. (Wobei das mit dem "reinen Denken"  wie schon gesagt auch etwas missverständlich ist.) Die erste Frage, die sich ergibt, würde dann aber lauten, wie sich ebendiese These beweisen lässt. Empirisch lässt sie sich jedenfalls nicht beweisen; es bliebe paradoxerweise also nur ein "denkerischer" Beweis!

 

Wir können das Thema aber auch an einem anderen Beispiel behandeln. Nimm etwa die einfache Frage, ob (künftige) Computer womöglich denken können. Empirisch lässt sich diese Frage nicht beantworten, weil man empirisch nicht zwischen einer (hinreichend guten) Simulation von intelligentem Verhalten und intelligentem Verhalten selbst unterscheiden kann.

 

Heißt das nun, dass wir zu der Frage, ob Computer denken können, absolut und rein gar nichts Sinnvolles sagen können? Dass jedweder Antwortversuch "reine Fantasie" ist usw?

 

Dem würde jedenfalls ich entschieden widersprechen. Wir können durchaus zu einer klaren und begründeten Antwort gelangen, denn wir wissen (zumindest grundsätzlich), was "Denken" ist, und wir wissen auch, wie Computer grundsätzlich funktionieren. Und nun kann man ohne große Mühe vergleichen, was "Denken" ausmacht und worin das Vorgehen einer Turing-Maschine besteht (zu der in einem gewissen Sinne ja alle Computer "äquivalent" sind).

 

Es gibt eben auch Fragen, die deshalb nicht empirisch untersucht werden können und müssen, weil sie sehr fundamental sind. Bei (natur)wissenschaftlichen Fragen geht es gewöhnlich darum, wie etwas faktisch beschaffen ist. Bei philosophischen Fragen geht es oft darum, dass etwas so sein muss oder unmöglich so sein kann.

Ob Menschen häufig an Katzen denken, ist eine Frage der Psychologie, und sie muss empirisch untersucht werden; alles andere wäre Unfug. Und es kann sich herausstellen, dass die Antwort so oder auch anders lautet.

Die Frage hingegen, ob Denken das gleiche ist wie die Operationen einer Turing-Maschine, können wir nicht empirisch durchtesten - und brauchen es auch nicht. Und die Antwort ist auch nicht "zufälligerweise" wahr in dem Sinne, dass es auch ganz anders sein könnte, sondern sie liegt in der eigentlichen Natur von Denken und Turing-Maschine selbst begründet.

bearbeitet von iskander
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vor 19 Stunden schrieb iskander:

Betrachten wir nochmals einen spezifischen Aspekt, nämlich Deine Überzeugung, dass die Wissenschaft nur "positive" und keine "negativen" Sachverhalte erkennen bzw. beweisen kann.

 

Entschuldige, dass ich mir dieses herauspicke: Wenn schon, formuliere ich es genau umgekehrt, und zwar so:

 

Beruhend auf unseren bisherigen Beobachtungen und Erfahrungen, erstellen wir gedankliche Modelle, wie diese Tatsachenbeobachtungen wohl miteinander in Zusammenhang stehen könnten. Von diesen Modellen ausgehend, versuchen wir dann neue Beobachtungen zu machen. Entweder passen die in unsere bisherigen Modelle, oder nicht. 

 

Im ersteren Fall ist das eine Bestätigung, aber natürlich kein endgültiger Beweis. Im letzteren Fall erfordert es entweder eine Anpassung unserer Theorien, oder sie scheitert komplett. Das ist der Fall, den Popper meint, wenn er sagt, daß wir nur im Falle des vollkommenen Scheiterns mit der Wirklichkeit in Kontakt kommen. 

 

Es ist uns dann auf einmal klar, daß unsere bisherigen Annahmen Mythen, Irrtümer waren. Und nur in solchen Fällen können wir uns ganz sicher sein. Wir sind uns ganz sicher, daß die Erde keine Scheibe ist, daß sie nicht der Mittelpunkt unseres Sonnensystems ist, und daß das Leben auf dieser Erde älter ist als 6000 Jahre und nicht in einem einzigen Schöpfungsakt entstanden ist, sondern sich entwickelt hat. 

 

Diese „Ent-täuschung“, das Scheitern eines lang bestehenden Paradigmas, das nenne ich eine grundsätzliche „Falschheit“, ein „negatives“ Wissen, hinter das, was immer wir sonst herausfinden mögen, unser Wissen nicht mehr zurückfällt, und nicht selten die poitive oder wissenschaftliche Phase eines Fachgebietes begründet.

 

Die darauf folgenden, „positiven“ Erkenntnisse mögen gut belegt sein, aber sie sind immer nur vorläufig, und können jederzeit von besser durch Tatsachenbeobachtungen belegtem Wissen ergänzt oder ersetzt werden. Der Komparativ ist hier wichtig. Wissenschaftliches Wissen unterscheidet sich in der Regel nicht nach „wahr“ oder „falsch“, sondern nach „besser“ oder „schlechter“.

 

„Endgültig wahr“ ist einfach in der wissenschaftlichen Arbeit kein zweckmäßiges Kriterium, weil in der Regel kaum zu beweisen, und für den wissenschaftlichen Fortschritt auch ohne Belang. Man mag umgangssprachlich das Wort „wahr“ verwenden, wenn eine Sache eigentlich nur vorläufig sicher ist, nur ist das eine sprachliche Ungenauigkeit, die man sich ja bei Zahlen auch nicht erlauben würde.

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vor 20 Stunden schrieb iskander:

Das alles setzt aber voraus, dass es eben keine Fragen gibt, die sich sinnvollerweise mit "reinem Denken" beantworten lassen. (Wobei das mit dem "reinen Denken"  wie schon gesagt auch etwas missverständlich ist.) Die erste Frage, die sich ergibt, würde dann aber lauten, wie sich ebendiese These beweisen lässt. Empirisch lässt sie sich jedenfalls nicht beweisen; es bliebe paradoxerweise also nur ein "denkerischer" Beweis!

 

Wir können das Thema aber auch an einem anderen Beispiel behandeln. Nimm etwa die einfache Frage, ob (künftige) Computer womöglich denken können. Empirisch lässt sich diese Frage nicht beantworten, weil man empirisch nicht zwischen einer (hinreichend guten) Simulation von intelligentem Verhalten und intelligentem Verhalten selbst unterscheiden kann.

 

Heißt das nun, dass wir zu der Frage, ob Computer denken können, absolut und rein gar nichts Sinnvolles sagen können? Dass jedweder Antwortversuch "reine Fantasie" ist usw?

 

Die Frage nach dem künftigen Denken von Computern ist Fantasie, genauer gesagt Science Fiction. Solange ich dazu aus der IT heraus begründete Aussagen machen kann, sind es technisch-wissenschaftliche Hypothesen, und an denen gibt es wirklich keinen Mangel. Das gehört ins Feuilleton. Mit Wissenschaft hat das nichts zu tun.

 

Welche besondere Expertise da die Philosophie haben soll, erschließt sich mir nicht (wie auf allen anderen Gebieten auch nicht). Sie ist einmal angefangen mit dem Nachdenken über die Natur. Damals hatten die Menschen kaum Tatsachenwissen, also waren sie auf ihre Fantasie und ihr Denken angewiesen. Die Ergebnisse waren entsprechend. Wo die Naturphilosophie zu zutreffenden Erkenntnissen gekommen ist, war sie im Verarbeiten von Beobachtungen unseren theoretisch-empirische Wissenschaften schon ziemlich nahe. Wo nicht, waren es sinnlose Spekulationen.

 

Heute haben wir das nicht mehr nötig. Unser empirisches Wissen übersteigt unsere Fähigkeit, überprüfbare Modelle von Zusammenhängen zu entwickeln, bei weitem.  Noch mehr als damals führt heute „reines Denken“ in die Irre. Oder wie es Rolf Helmut Foerster einmal so treffend formulierte: „Zur Metaphysik kommt man […], indem man beim Nachdenken über eine Sache dem Denken selbst den Vorrang vor der Sache gibt.“ 

 

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vor 30 Minuten schrieb Marcellinus:

Man mag umgangssprachlich das Wort „wahr“ verwenden, wenn eine Sache eigentlich nur vorläufig sicher ist, nur ist das eine sprachliche Ungenauigkeit, die man sich ja bei Zahlen auch nicht erlauben würde.

Nun ja. Das erste, was man im Physikstudium lernt, ist: Nicht alle Ziffern abschreiben, die der Taschenrechner liefert, sondern sich zuerst Gedanken darüber machen, welche davon relevant sind. Der Hintergrund: Den exakten Wert kennt man nicht*, man arbeitet also mit einer sinnvollen Näherung.

 

(*Ausnahmen sind SI-Definitionen wie die Lichtgeschwindigkeit von 299.792.458 m/s, über die das Meter definiert wird.)

   
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vor 3 Minuten schrieb Moriz:

Nun ja. Das erste, was man im Physikstudium lernt, ist: Nicht alle Ziffern abschreiben, die der Taschenrechner liefert, sondern sich zuerst Gedanken darüber machen, welche davon relevant sind. Der Hintergrund: Den exakten Wert kennt man nicht*, man arbeitet also mit einer sinnvollen Näherung.

 

Eine Aufgabe an Mathematiker und Physiker: Was ist die Quadratwurzel aus 49! Der Physiker zückt seinen Rechenschieber, und kommt sofort mit der Antwort: ungefähr 7! Der Mathematiker schreibt Formel nach Formel und kommt am Ende zu dem Schluß: Es gibt eine Lösung! ;) 

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vor 18 Minuten schrieb Marcellinus:

Eine Aufgabe an Mathematiker und Physiker: Was ist die Quadratwurzel aus 49! Der Physiker zückt seinen Rechenschieber, und kommt sofort mit der Antwort: ungefähr 7! Der Mathematiker schreibt Formel nach Formel und kommt am Ende zu dem Schluß: Es gibt eine Lösung! ;) 

Das war der Experimentalphysiker! Der theoretische Physiker kommt auf 7,000 +/- 0,001.

Und der Chemiker auf 6,98.

(Und genau genommen kommt der Mathematiker hier zu dem Schluß, daß es zwei Lösungen gibt. -7 wäre die andere.)

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