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Wie viel Potential haben die Kirchen noch?


iskander

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Dass die christlichen Kirchen in Europa immer mehr Mitlieder verlieren, ist allgemein bekannt. In Diskussionen hier wurde in diesem Zusammenhang immer wieder die Frage aufgeworfen, ob die christlichen Kirchen vor allem deshalb Mitglieder verlieren, weil es einfach kein großes Bedürfnis mehr für (christliche) Religion gibt, ungeachtet eventueller Fehler und Schwächen der Kirchen.

Es geht hier also letztlich darum , welcher Anteil am Kirchenschwund nur am schlechten "Marketing" liegt und welcher damit zu tun hat, dass ein Produkt, für das es kein Bedürfnis gibt, selbst bei gutem Marketing keine großen Erfolgsaussichten hat.

 

Ich möchte das mal so zur Diskussion stellen und mit ein paar eigenen Überlegungen gleich zur inhaltlichen Debatte beitragen.

 

Für die Ansicht, dass die organisierte (chrsitliche) Religion einfach kein großes (Wachstums-)Potential mehr hat, jedenfalls auf absehbare Zeit nicht, spricht, dass immer mehr Menschen die Kirchen verlassen, und dass dies seit langem ein anhaltender Trend ist. Es gehen weit mehr Menschen als den Kirchen heraus als neu hereinkommen. Das scheint mehr oder weniger für alle europäischen Ländern zu gelten. Und selbst in den USA zeigt sich der Trend, dass mehr Menschen wenigstens keiner Konfession mehr angehören.

 

Andererseits scheint durchaus eine gewisse Form von "Spiritualität" in Teilen der Bevölkerung vorhanden zu sein:

 

Immer mehr Menschen scheinen informellen Überzeugungssystemen "anzugehören", die mitunter religionsähnliche Züge annehmen können, also vielleicht als Formen von "Zivilreligion" apostrphiert werden könnten. Es mutet allerdings zweifelhaft an, ob hier ein großes Potential für die Kirchen besteht. Im Gegenteil graben solche Bewegungen den Kirchen vielleicht eher das Wasser ab (s.u.).

 

Allerdings ist das nicht alles; laut Umfragen gilt (Qullenangaben unten):

 

- Es scheinen immer noch mindestens 50% der Leute an Gott oder "ein höheres Wesen" zu glauben (dieser Wert ist in Deutschland wohl relativ konstant).

- 50% der Menschen glauben an  Existenz von Wundern.

- Ungefähr die Hälfte der Bevölkerung glaubt an Engel, wobei hier die Zahlen in den letzten Jahrzehnten angeblich nach oben gegangen sind (von 30% auf 50%).

- Die Mehrheit der Leute scheint der Auffassung zu sein, dass an der Astrologie etwas dran sein müsse, und gerade unter jungen Menschen scheint sie eher an Zulauf zu gewinnen.

 

Es scheinen also doch viele Menschen anzunehmen, dass es irgendwelche "höheren", unsichtbaren Mächte gibt, oder auch irgendeine Art Sinn, höherer Ordnung oder eine Art "Schicksal".

Spezifisch christliche Überzeugungen stehen hingegen weniger hoch im Kurs, und das ist offenbar schon länger die Tendenz (vgl. 6). Um aus einem Welt-Artikel (2) zu zitieren:

 

"Die 'Kernbestände' des Christentums verlören an Bedeutung, geblieben sei stattdessen eine 'vage Spiritualität', so Petersen weiter. So sagten 1986, als die Frage erstmals gestellt wurde, 56 Prozent der Befragten in der alten Bundesrepublik, sie glaubten daran, dass Jesus Christus der Sohn Gottes sei. Heute geben noch 41 Prozent der Westdeutschen diese Antwort. Bei der Aussage 'dass Gott die Welt geschaffen hat' ist den Angaben zufolge ein Rückgang von 47 auf 33 Prozent zu verzeichnen. [...] Mit Blick auf die Frage, wer den Kirchen den Markt um emotionalen Halt streitig macht, hält Petersen fest: 'Es spricht einiges dafür, dass die Ökologiebewegung hier die wichtigste Rolle spielt beziehungsweise die ihr zugrundeliegenden Annahmen von einer guten, aber durch menschliches Fehlverhalten gefährdeten Natur.'"

 

Wir haben also das interessante Phänomen, dass eine gewisse "Spiritualität" seit vielen Jahren relativ unverändert in der Bevölkerung vorhanden zu sein scheint (Glaube an ein "höheres Wesen"), punktuell vielleicht sogar zunimmt (Engel, Wunder). Insofern könnte man bezweifeln, dass das "Verdampfen" von christlicher Prägung und Affinität zu den Kirchen allein mit einer Abnahme spiritueller Tendenzen oder Bedürfnisse zu erklären ist. Im Gegenteil könnte man vermuten, dass ein gewisses "Potential" für die Kirchen durchaus da wäre, und dass manche (wenn auch nicht alle) Menschen mit spirituellen Tendenzen grundsätzlich von einer "attraktiven" religiösen Bewegung "erreichbar" sein könnten.

Falls das allerdings tatsächlich so ist, muss man nüchtern konstatieren, dass die Kirchen dieses Potential bisher nicht in ihrem Sinne aktivieren konnten. Nur noch 15% der Menschen gehen laut Umfragen wenigstens einmal pro Monat in die Kirche , und das sind vor allem die Älteren (7).

 

Es stellen sich hier also folgende Fragen:

 

- Haben die christl. Kirchen ein größeres potentielles Reservoir von Menschen, die sie gewinnen könnten? Oder sind diese Leute, selbst wenn sie eine gewisse ("diffuse") Spiritualität haben, von den Kirchen oder anderen "organisierten religiösen Gemeinschaften" prinzipiell kaum noch ansprechbar?

 

- Falls ein Teil der genannten Menschen "im Prinzip" noch erreichbar sein sollte: Was machen die Kirchen "falsch", dass sie nicht mehr Menschen an sich binden können?

 

(Quellen: 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7)

 

bearbeitet von iskander
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Die Zahl der konkurrierenden Anbieter von Spiritualität,Religion und Aberglaube........ ist enorm gestiegen.

Die christlichen Anbieter haben keinen Schutz mehr durch den Staat vor dieser Konkurrenz.

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vor 16 Minuten schrieb ultramontanist:

Die Zahl der konkurrierenden Anbieter von Spiritualität,Religion und Aberglaube........ ist enorm gestiegen.

Die christlichen Anbieter haben keinen Schutz mehr durch den Staat vor dieser Konkurrenz.

 

Ja, die Zahl der Konkurrenten ist gestiegen, aber die Zahl derjenigen, die keinem weltanschaulichem Verein angehören, auch. Das kann es also nicht sein.

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vor 48 Minuten schrieb ultramontanist:

Die Zahl der konkurrierenden Anbieter von Spiritualität,Religion und Aberglaube........ ist enorm gestiegen.

Die christlichen Anbieter haben keinen Schutz mehr durch den Staat vor dieser Konkurrenz.

Es besteht derzeit wenig Bedarf und das wird sich auf absehbare Zeit nicht ändern. Die Kirchen werde es dank ihrer guten materiellen Ausstattung überleben. Im besten Fall gibt es eine innerkirchliche Erneuerung. Bisher hat sich die Kirche sich als recht anpassungs - und wettbewerbsfähig erwiesen. Was die Zukunft bringt, ist kaum vorherzusagen. Geschichtliche Entwicklungen verlaufen über einen längeren Zeitraum üblicherweise nicht einheitlich.

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Ergänzend ließe sich noch anmerken, dass zwar einerseits viele Leute, die an ein "höheres Wesen" glauben, ein relativ abstraktes, unpersönliches Gottesbild haben, oder jedenfalls war das noch 1997 wohl so (siehe Quelle 6 im ersten Beitrag). Andererseits scheint das nicht so eindeutig zu sein; immer noch eine ganze Reihe von Leuten scheint zu beten, wenigstens ab und zu - und zwar auch manche, die sich selbst als "nicht gläubig" betrachten (8, vgl. auch 9).

 

vor 5 Stunden schrieb Marcellinus:

 

Ja, die Zahl der Konkurrenten ist gestiegen, aber die Zahl derjenigen, die keinem weltanschaulichem Verein angehören, auch. Das kann es also nicht sein.

 

In manchen Fällen scheint die "Konkurrenz" aber auch wenig mit "Vereinen" zu tun zu haben. Leute, die beispielsweise esoterisch oder anthroposphisch drauf sind, gehen vielleicht mal zu einer Esoterik-Messe, gehören aber nicht unbedingt einer "Vereinigung" an.

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vor 5 Minuten schrieb iskander:
vor 5 Stunden schrieb Marcellinus:

Ja, die Zahl der Konkurrenten ist gestiegen, aber die Zahl derjenigen, die keinem weltanschaulichem Verein angehören, auch. Das kann es also nicht sein.

 

In manchen Fällen scheint die "Konkurrenz" aber auch wenig mit "Vereinen" zu tun zu haben. Leute, die beispielsweise esoterisch oder anthroposphisch drauf sind, gehen vielleicht mal zu einer Esoterik-Messe, gehören aber nicht unbedingt einer "Vereinigung" an.

 

Aber deine Frage war die nach der Zukunft der beiden großen "Glaubensvereine". 

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Die Frage ist halt, wieso immer weniger Leute den "christlichen Vereinen" angehören. Die Antwort, dass die Menschen grundsätzlich kein Interesse mehr an Spiritualität haben, greift womöglich zu kurz; es gibt wohl immer noch recht viele Leute, die mit Spiritualität etwas "anfangen können".

 

Hier stellt sich eben die Frage, ob es Ausdruck eines grundsätzlichen Desinteresses an "religiösen Vereinen" ist oder nicht, wenn die Kirchen trotzdem so wenige Menschen an sich binden können und immer mehr verlieren.

Für diese Annahme könnte man ins Feld führen, dass viele Leute in "keinen alternativen Verein" eintreten. Aber das Angebot an "alternativen Vereinen" ist natürlich auch nicht so groß (wenn man nicht gerade einer anderen organisierten Religionsgemeinschaft beitreten möchte). Das mag an fehlender Nachfrage nach solchen Vereinen liegen; andererseits ist es auch nicht so einfach, größere, formelle religiös-spiritiuelle Vereine aus dem Boden zu stampfen. Diese Vereine müssten dann wohl auch gemeinsame Rituale und Angebote schaffen, um überhaupt irgendeine Form von Attraktivität zu entfalten und ein Zugehörigkeits-Gefühl zu bewirken.

 

Vielleicht liegt es daran, dass Spiritualität eher individuell gepflegt wird (wo sie denn gepflegt wird), statt dass man sich nach einem spirituellen Gemeinschaftserlebnis sehnen würde. Dagegen spricht allerdings wiederum die Popularität großer Veranstaltungen (Weltjugendtage, Taizé), die auch Menschen anziehen, die nicht alle streng orthodox glauben.

 

Oder vielleicht mal so gefragt:

- Gibt es nur noch ein geringes Bedürfnis nach "spiritueller Gemeinschaft" bzw. "gemeinsamem spirituellen Erleben"?

- Oder gibt es zwar noch ein solches (potentielles) Bedürfnis in einigem Umfang, aber die Großkirchen sind schlecht darin, es zu bedienen 8außer in atypischen Situationen eben)?

bearbeitet von iskander
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@Marcellinus: Eine wirklich schöne und treffende Analyse.

 

Ich bin jetzt Anfang 40 und habe mein ganzes Leben an einen Gott geglaubt. Ich hatte nicht immer die christliche Vorstellung eines Gottes. Eigentlich über die längste Zeit nicht. Ich bin zwar - aus mehreren Gründen, wovon einer definitiv die Tradition ist - nicht ausgetreten, aber andere wären das in meiner Situation. Die Fraktion der durchaus spirituellen Menschen mit eher abstrakter Gottesvorstellung eben.

 

So. Bis ich mein "Erleuchtungserlebnis" hatte. Das... hm... multifaktoriell bedingt war. Die Institutionen der Kirche hatten jedoch keinen Anteil daran. Ich überlege jetzt gerade, ob die Kirche (Gottesdienste habe ich durchaus auch abseits von Weihnachten und Ostern ab und an besucht) irgendetwas hätte anders machen können, um mich früher "zurückzuholen". Und ich muss sagen 🤔: Nein. 

 

Also keine Ahnung, was die Kirchen falsch machen. Ich weiß nur, dass es die Kirche nicht geschafft hat, mich zu binden, auch wenn ich mich ihr nun tief verbunden fühle 😉.

 

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7 hours ago, Kara said:

Also keine Ahnung, was die Kirchen falsch machen. Ich weiß nur, dass es die Kirche nicht geschafft hat, mich zu binden, auch wenn ich mich ihr nun tief verbunden fühle 😉.

 

In der Tat gibt es den guten Analysen hier wenig hinzuzufügen, die „Volkskirche“ früherer Jahrhunderte ist passé. (Und Staatskirche früherer Jahrhunderte kommt nur zurück, wenn die Demokratie geht.)

 

Dass mich die Kirche halten konte (ohne dass ich ein „Bilderbuchkatholik“ wäre), ist vor allem manchen kleinen spirituellen „Beibooten“ des großen Kirchenschiffes geschuldet - eben kleinen Klöstern, Exerzitien- oder Meditationsgruppen, in denen der Umgang mit spiritueller Erfahrung und Tradition im Mittelpunkt steht, und kirchliche Gemeinschaft sich als gelebter Ausfluß aus dieser Erfahrung ergibt.

Ich denke, dass die „autoritäre“, hierarchisch-volkskirchliche Struktur, die hierzulande noch sehr dominant ist, dabei eher ein Hindernis ist, eigentlich diese inzwischen doch ein sehr hohles Gemäuer, das tatsächlich weiter einstürzen und verfallen wird.

Religion ist jedenfalls weiterhin ein relevanter, überdauernder Zugang zum „unheilbar“ spirituellen Wesen „Mensch“. Es ist die Frage, wieviel Energie die Kirchen in den Erhalt der Ruinen steckt, und wieviel in den „Kern“.

 

(Dies mit ausdrücklichem Respekt vor allen säkularen Kritikern von Religion: „spirituelles“ Wesen bedeutet nicht, dass andere Zugänge zum Menschen defizitär sind, sie sind einfach nur anders.)

bearbeitet von Shubashi
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Sehen wir es mal marktwirtschaftlich.

 

Ein dauerhaftes Überleben am Markt ist nur möglich, wenn man sich einer sich ändernden Nachfrage anpasst. Oder aber, wenn man stark genug am Markt positioniert ist, und eine eigene, von äußeren Entwicklungen unabhängige, Nachfrage selbst erzeugen kann. Letzteres schaffen nur sehr wenige, sehr große Marken.

 

Die Kirche war lange Zeit eine so große Marke. Darauf hat sie sich ausgeruht, darin hat sie sich selbst eingelullt.

 

Diese Marktmacht ist weg. Und nun kommt das Problem: Den zweiten Weg, eine Anpassung an die Nachfrage, ist der Kirche wesensfremd. Ich werte das nicht. Ich stelle das nur fest. Die Kirche ist nicht nur nicht bereit, sich zu ändern, sie macht es geradezu zu ihrem Wesen, dazu nicht bereit zu sein.

 

Für mich ist die katholische Kirche wie dieses eine Restaurant, das jede Stadt hat: Speisekarte von vor zwanzig Jahren, alles vom Schwein, alles schwer. Draußen in der Stadt leben 20% Muslime, 20% Gesundheitsbewusste und 20% Vegetarier und Veganer, Schnittmengen nicht ausgeschlossen 😉, man bietet aber aus Prinzip und/oder Bequemlichkeit weiterhin nur das Schnitzel vom Schwein in zehn Varianten. Und dann macht man irgendwann den Laden zu, weil kaum noch jemand kam.

 

Wie gesagt: Dass die Kirche nicht bereit ist, sich in Beliebigkeit aufzulösen, um einen Markt zu bedienen, werte ich nicht. Ich stelle nur fest, wozu das führen wird.

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vor 1 Stunde schrieb Shubashi:

(Und Staatskirche früherer Jahrhunderte kommt nur zurück, wenn die Demokratie geht.)

Und dann in Form eines Kalifats, bestenfalls einer orthodoxen Kirche.

 

vor 1 Stunde schrieb Shubashi:

Dass mich die Kirche halten konte (ohne dass ich ein „Bilderbuchkatholik“ wäre), ist vor allem manchen kleinen spirituellen „Beibooten“ des großen Kirchenschiffes geschuldet - eben kleinen Klöstern, Exerzitien- oder Meditationsgruppen, in denen der Umgang mit spiritueller Erfahrung und Tradition im Mittelpunkt steht, und kirchliche Gemeinschaft sich als gelebter Ausfluß aus dieser Erfahrung ergibt.

:daumenhoch:

 

vor 1 Stunde schrieb Shubashi:

Ich denke, dass die „autoritäre“, hierarchisch-volkskirchliche Struktur, die hierzulande noch sehr dominant ist, dabei eher ein Hindernis ist, eigentlich diese inzwischen doch ein sehr hohles Gemäuer, das tatsächlich weiter einstürzen und verfallen wird.

Jein. NOCH sind die Strukturen da, sie müssten mit (mehr) Leben gefüllt werden. Ich werde die Hoffnung nicht aufgeben :). Aber allzuviel Zeit bleibt nicht mehr.

 

vor 1 Stunde schrieb Shubashi:

Religion ist jedenfalls weiterhin ein relevanter, überdauernder Zugang zum „unheilbar“ spirituellen Wesen „Mensch“. Es ist die Frage, wieviel Energie die Kirchen in den Erhalt der Ruinen steckt, und wieviel in den „Kern“.

:daumenhoch:

 

@Neandertaler 's martkwirtschaftlie Position teile ich dagegen nicht so ganz. Die Kirchen haben ein ganz tolles Produkt (Spiritualität), sie müssen es nur besser verkaufen.

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vor 3 Stunden schrieb Moriz:

Die Kirchen haben ein ganz tolles Produkt (Spiritualität), sie müssen es nur besser verkaufen.

 

Da habe ich so meine Zweifel. Spiritualität ist eine individuelle Sache, Religion dagegen eine kollektive. Kirchen sind organisierte Religion, organisierte Spiritualität dagegen ein Widerspruch in sich.

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vor 15 Stunden schrieb rorro:

3. nicht zuletzt die Glaubenslehre selbst ist eine harte Nuss: ein Zimmermann von vor 2000 war Gott als Mensch und ist wirklich gestorben und wirklich von den  Toten auferstanden.

Ein Gott in drei Personen. Die Auferstehung des Fleisches. Die Eucharistie mit ihrer realen Präsenz Jesu in einem besseren Stück Esspapier.

Das gäbe es noch vieles, was man anführen könnte, was erst einmal maximal unglaubwürdig(!) klingt.

 

Das stimmt schon, scheint aber in der Praxis gar keine so große Rolle zu spielen. Ich vermute aus zwei Gründen: Überzeugungen, die in der eigenen Kultur verbreitet und "normal" sind, werden auch als relativ "normal" betrachtet, selbst wenn sie eigentlich "unglaubwürdig" erscheinen mögen. Außerdem scheinen viele Leute heute einfach selektiv das an "Glaubenswahrheiten" anzunehmen, was ihnen selbst akzeptabel erscheint bzw. sie anspricht, ohne dass sie sich allein deswegen veranlasst sähen, aus ihrer Kirche auszutreten. Das scheint offenbar selbst für Kirchgänger zu gelten. Dazu interessante Zitat aus dem Focus von 1991:

 

"Der an der Katholischen Fachhochschule in Freiburg und an der Universität Konstanz lehrende Soziologe Michael N. Ebertz, von FOCUS um eine Bewertung der Umfrage gebeten, führt das verwirrende und bunte Gottesbild nicht auf einen satanischen Großangriff zurück, sondern auf eine Veränderung der Gesellschaft mit durchweg irdischen Ursachen.  Er zweifelt überhaupt, ob es je anders war mit dem Glauben der Deutschen. Im Rahmen der Lebenserfahrung und der Erkenntnisfähigkeit habe schon immer das persönliche Gottesbild dominiert. Nur könne man es heute offen bekennen, ohne daß man gesellschaftlich geächtet oder gar von fundamentalistischen Fanatikern gefoltert und verbrannt werde. [...] Die Christen würden in eine 'Gnadenanstalt' Kirche hineingeboren und blieben in ihr, weil sie heute in den Kirchen 'denken und glauben können, was sie wollen'."

 

Man mag solche "Untreue im Glauben" aus orthodoxer Sicht beklagen, aber zu Kirchenaustritten führt sie wohl nicht unbedingt. Und eines ist auch klar: Wenn zum Beispiel die Katholiken sich alle verpflichtet fühlen würden, entweder alle kirchlichen Lehren und vor allem moralischen Gebote zu akzeptieren oder alternativ die Kirche zu verlassen, wären vermutlich 90% weg, und hier spreche ich von den Menschen mit relativ starker Glaubensbindung, die regelmäßig in die Kirche gehen. Manche würden sich genau dies wünschen ("gesundschrumpfen"), andere nicht.

 

@Marcellinus

 

Zitat

Was man in den letzten Jahrzehnten beobachten konnte, war, daß nichts nur die Kirchen Mitglieder verloren haben, sondern auch Parteien, Gewerkschaften und selbst Sport- oder Schützenvereine, alle, besonders in Deutschland, in hohem Maße von Traditionen geprägt. Besonders die Schützenvereine hatten in meiner Kindheit noch eine Präsens, die man sich heute nicht mehr vorstellen kann.

 

Das ist sicherlich ein Punkt von großer Bedeutung! Das "organisierte Vereinswesen" - zu dem die Kirchen ja auch gehören, etwas despektierlich gesprochen - hat offenbar stark an Attraktivität verloren.

 

Zitat

Aber ohne Kontrolle und die Möglichkeit der Korrektur „falscher“ Vorstellungen kann keine Kirche existieren.


Zumindest scheint sie ohne eine gewisse soziale Kontrolle (die auch gesellschaftliche Konventionen einschließt) nicht zu prosperieren, jedenfalls nach bisheriger Erfahrung.

 

Zitat

In weltanschaulichen Fragen dagegen gibt es nichts, an denen sich eine Gewißheit festmachen ließe, und wo sich Gewissheiten auflösen, und die Kirchen nicht mehr die Macht haben, ihrer Gewissheit zur Geltung zu verhelfen, da werden Traditionen zu einer leeren Hülle für etwas, was es nicht mehr gibt. Der Rest ist ein Kostümfest.

 

Dem könnte man entgegenhalten, dass auch viele Mitglieder mit Kirchenbindung nicht an allen "Gewissheiten" festhalten, die von ihren Kirchen verkündet werden. Im Prinzip, so mag man sagen (gerade entsprechend dem kath. Verständnis), sei entscheidend, dass alle Verkündigungen in Dingen des Glaubens (und der Sitte) angenommen (und treulich befolgt) werden. In der Praxis scheint es darauf aber wie gesagt für die meisten Mitglieder der Kirchen gar nicht so sehr anzukommen. Solange Menschen "spirituell" (im weiteren Sinne) sind und die Traditionen ihnen "etwas geben", werden sie vermutlich dennoch in ihrer Kirche bleiben. Aber die Traditionen und das gemeinsame Erleben scheint eben für viele an Attraktivität zu verlieren.

bearbeitet von iskander
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vor 55 Minuten schrieb Marcellinus:
vor 4 Stunden schrieb Moriz:

Die Kirchen haben ein ganz tolles Produkt (Spiritualität), sie müssen es nur besser verkaufen.

 

Da habe ich so meine Zweifel. Spiritualität ist eine individuelle Sache, Religion dagegen eine kollektive. Kirchen sind organisierte Religion, organisierte Spiritualität dagegen ein Widerspruch in sich.

In gewisser Weise stimmt das, sagen wir lieber "Zugänge zur Spiritualität".

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@Marcellinushat es schon angetönt, es ist ein gesellschaftlicher Prozess der nicht nur die Kirchen betrifft. Auch Photoclubs, Jodelchöre, Kegelvereine oder Hobby-Astronomen verlieren Mitglieder, und die bleibenden werden immer älter und tragen so zum Schwund bei. Trotz Vereinsbeiträgen die einen Bruchteil der jährlichen Kirchensteuer eines Durchschnitts-Haushaltes ausmachen dürften. Bei der RKK noch erschwerend - Missbrauchsskandale, dunkle Vergangenheit, Geldverschwendung, Streit um die "richtige" Liturgieform. Dennoch sinken hier die Zahlen nur leicht, Quebec war schon immer traditionell katholisch, und die Einwanderung aus Ländern wie Philippinen und Süd-Amerika wiegen die Austritte grösstenteils auf.  Diese Einwanderer wurden ja in ihrer alten Heimat getauft und sind mw de facto Mitglieder der RKK, ob sie sich da beteiligen oder nicht. Aber grosse Sorgen muss sich die rKK hier nicht machen.

 

Aber generell wird dieser Prozess zum Problem: Entwurzelung ist das eine. Euphemistisch "Flexibilität" genannt. Dem Mann meiner Freundin wurde sehr dringlich nahegelegt von Toronto nach Los Angeles umzuziehen falls ihm sein Job lieb sei, wegen irgend einer Reorganisation in der Firma. Völlig unwichtig dass seine Frau in Toronto eine Arztpraxis betreibt, seine Kinder im Grundschulalter stecken, all ihre Freunde und Bekannten dort leben, dass ein Haus in LA vermutlich etwa das doppelte kostet, uvam. Jemand der den Job wirklich braucht (er zum Glück ja nicht) hat es da schwer.

 

Dann auch die zunehmende Urbanisierung. Auf dem Land gehts ja noch mit diesen Entwicklungen, sie finden langsamer statt, die Leute kennen sich alle, sie sind weit solidarischer untereinander, während in der Politik das Wort Solidarität derart verhunzt wurde dass es zu einer weiteren sinnlosen Floskel mutiert hat.

 

Die Politik kann man daher vergessen: Man ist ja schon total rechts und Nazi wenn man Dinge wie Traditionspflege auch nur flüstert oder in einer kleinen Fussnote ins Parteiprogramm nimmt. Aber wo Solidarität nicht mehr persönlich wahrgenommen wird, sinkt die Bereitschaft irgendwelche Freiwilligen-Arbeit zu tun, und von dem profitiert die Gesellschaft enorm, schon deshalb weil es nicht an den Staat übertragen werden muss. (zb freiwillig Nachhilfe-Stunden geben, freiwillige Altersheim-Besuche, freiwillie Verkehrs-Regler bei den Schulen, freiwllige Aufseher bei ausserschulischen Aktivitäten, meist Sport). Und hier wo es keine Kirchensteuer gibt profitiert die rKK von einer Unzahl Freiwilliger, vom Kirche putzen übers Orgelspiel zur Lesung der Apostelgeschichte (oder wie das genau heisst) bis zu den Einpeitschern damit auch kräftig gesungen wird während des Gottesdienstes. Und wo diese Freiwilligen fehlen werden die betroffenen Vereine immer unattraktiver und fallen schliesslich auseinander.

 

 

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vor 57 Minuten schrieb phyllis:

Streit um die "richtige" Liturgieform

Das dürfte nur eine winzige, engagierte Minderheit betreffen. Die meisten katholischen Kirchgänger wissen doch gar nicht (mehr), daß es mal ein anderes Messbuch gab. (Und selbst den wenigsten dürfte aufgefallen sein, daß die Lektionare neu übersetzte Texte enthalten. Am ehesten noch daran, daß der Einband bei uns jetzt nicht mehr rot ist...)

 

vor einer Stunde schrieb phyllis:

bis zu den Einpeitschern damit auch kräftig gesungen wird während des Gottesdienstes

Die habe ich in katholischen Gottesdiensten noch nie erlebt, die verbinde ich ausschließlich mit Freikirchen. Allerdings war ich noch nie in Kanada in einer Messe.

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vor 55 Minuten schrieb Moriz:

Die habe ich in katholischen Gottesdiensten noch nie erlebt, die verbinde ich ausschließlich mit Freikirchen.

In der Francophonie hat es Tradition, einen Vorsänger oder eine Vorsängerin zu haben, die vom Ambo aus die Lieder während der Messe vorsingt/dirigiert/animiert.

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vor 16 Stunden schrieb Kara:

Also keine Ahnung, was die Kirchen falsch machen. Ich weiß nur, dass es die Kirche nicht geschafft hat, mich zu binden, auch wenn ich mich ihr nun tief verbunden fühle 😉.

 

Ich vermute der größte Fehler ist zu meinen, die Kirche könnte überhaupt binden. Für einen Christen ist es eigentlich klar, daß entweder der Hl. Geist da seine Hände im Spiel hat oder man lieber die Finger davon läßt. Die Kirche - als Synonym für die Menschen in ihr - kann maximal nicht im Weg stehen und dadurch das Eingreifen des Geistes ermöglichen.

 

Auch bei mir hat die Kirche als Institution nur im Hintergrund gewirkt - sie selbst ist ganz offensichtlich bei mir nicht daran "Schuld", daß ich mich ihr ebenfalls zutiefst verbunden fühle.

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vor 1 Stunde schrieb rorro:

 

Ich vermute der größte Fehler ist zu meinen, die Kirche könnte überhaupt binden. Für einen Christen ist es eigentlich klar, daß entweder der Hl. Geist da seine Hände im Spiel hat oder man lieber die Finger davon läßt. Die Kirche - als Synonym für die Menschen in ihr - kann maximal nicht im Weg stehen und dadurch das Eingreifen des Geistes ermöglichen.

Natürlich kann sie durch ihre umfangreichen Angebote binden. In diesem Bereich läßt sie leider nach. Das nicht im Weg stehen wird aber auch immer wichtiger. Da ist das Problem die Lagerbildung. Wenn zwei eher unattraktive Lager das kirchliche Leben beherrschen, bedeutet das für den durchschnittlichen Gläubigen Entfremdung und für potentielle Mitgliedschaftskandidaten Abschreckung. Mit "Maria 2.0" oder dem Opus Dei kommt man mE nur bei wenigen an.

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vor 3 Stunden schrieb Merkur:

Natürlich kann sie durch ihre umfangreichen Angebote binden. In diesem Bereich läßt sie leider nach. Das nicht im Weg stehen wird aber auch immer wichtiger. Da ist das Problem die Lagerbildung. Wenn zwei eher unattraktive Lager das kirchliche Leben beherrschen, bedeutet das für den durchschnittlichen Gläubigen Entfremdung und für potentielle Mitgliedschaftskandidaten Abschreckung. Mit "Maria 2.0" oder dem Opus Dei kommt man mE nur bei wenigen an.

 

Ich glaube nicht, dass die Kirche als Institution selbst groß religiös binden kann, eher soziologisch. Ein Priester erzählte mir bspw. einmal, dass er seine Bekehrung erst nach der Weihe erlebt hat. Zuvor war er „ganz normal“ katholisch sozialisiert worden, eben auch gerne Messdiener etc. gewesen. Doch das Existentielle kam sogar erst nach der Weihe.

Und das ist das, was ich meine: Kirche als Braut Christi - daran kann die irdische Kirche nicht binden, das kann nur der Geist.

 

Was die Lagerbildung angeht, so gebe ich Dir zwar Recht, doch das Ziel sollte immer sein, jedem Lager zwar Platz, aber keine Dominanz zuzugestehen.

bearbeitet von rorro
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Ich möchte einen vorherigen Beitrag von mir etwas relativieren. Zwar halte ich es immer noch plausibel, dass die meisten "abstrakten Dogmen" keinen großen Einfluss darauf haben, wie viele Leute die Kirche verlassen. Und bis zu einem gewissen Grad gilt das sogar für Lehren von praktischer Relevanz, die abgelehnt werden - beispielsweise wird der Kirche in Fragen der Sexualmoral von den meisten Gläubigen so wenig Autorität zuerkannt, dass sich inzwischen vermutlich viele nicht einmal an der Position der Kirche auch nur stören.

Bei manchen Gläubigen tritt durch das Festhalten der Kirche an weithin als problematisch empfundenen und dabei praxisrelevanten Positionen aber sicherlich ein Entfremdungseffekt auf - und zwar vermutlich bei den eher engagierte Mitlieder als bei den Karteileichen eher Passiven. Und Missbrauchsskandale beschleunigen die Austritte offensichtlich wenigstens. Und sie dürften auch zu einem gesellschaftlichen Klima beitragen, das dann wiederum eine Distanzierung von der Kirche begünstigt.

 

In den USA scheint sich die Kirche politisch (stramm rechts) zu positionieren, wenn mich mein Eindruck nicht trügt (ich beobachte das aber nicht genau) Der Vorteil dürfte sein, dass man dadurch Menschen mit entsprechender Ausrichtung so anzieht - andere wird man aber wohl eher abschrecken.

Dazu einen interessanten Artikel aus "The Atlantic", in dem es allgemein das Verhältnis von christlicher Religion (nicht speziell Katholizismus) und Politik geht:

 

Zitat

This story begins with the rise of the religious right in the 1970s. Alarmed by the spread of secular culture—including but not limited to the sexual revolution, the Roe v. Wade decision, the nationalization of no-fault divorce laws, and Bob Jones University losing its tax-exempt status over its ban on interracial dating—Christians became more politically active. The GOP [grand old party = die Republikaner] welcomed them with open arms. The party, which was becoming more dependent on its exurban-white base, needed a grassroots strategy and a policy platform. Within the next decade, the religious right [...] had become fundraising and organizing juggernauts for the Republican Party. In 1980, the GOP social platform was a facsimile of conservative Christian views on sexuality, abortion, and school prayer. [...]The marriage between the religious and political right delivered Reagan, Bush, and countless state and local victories. But it disgusted liberal Democrats, especially those with weak connections to the Church. It also shocked the conscience of moderates, who preferred a wide berth between their faith and their politics.  [...] Meanwhile, during George W. Bush’s presidency, Christianity’s association with unpopular Republican policies drove more young liberals and moderates away from both the party and the Church.

 

Andere argumentieren ähnlich.

 

Allerdings sind das wohl keine "europäischen Probleme". Die Großkirchen in den größten Teilen Europa sind (schon lange) deutlich weniger politisch.

bearbeitet von iskander
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Am 8.8.2021 um 13:00 schrieb iskander:

Haben die christl. Kirchen ein größeres potentielles Reservoir von Menschen, die sie gewinnen könnten? Oder sind diese Leute, selbst wenn sie eine gewisse ("diffuse") Spiritualität haben, von den Kirchen oder anderen "organisierten religiösen Gemeinschaften" prinzipiell kaum noch ansprechbar?

Das Problem der Kirchen liegt glaube ich woanders.

 

So glaube ich nicht, daß das "spirituelle Bedürfnis" der Masse sich ggü. früheren Zeiten verändert hat. Aber die "Funktion" von Kirche hat sich massiv gewandelt.

 

Jede Gemeinschaft braucht gewisse gemeinsame Rituale, die Gemeinschaft stiften bzw. Verbindung schaffen. Entweder indem die Mitglieder der Gemeinschaft diesen Ritualen beiwohnt oder aber sie selbst vollzieht.

Bis vor 100-150 Jahren war die Institution, die in den Ländern Europas diese Rituale "verwaltete" (mit Ausnahme Frankreichs) die Kirche (sei es nun die Katholische, die evangelische oder die anglikanische). Und so sehr sich in den Bi-konfessionellen Ländern auch die Konfessionen untereinander noch "bekriegten", so ähnlich waren sich zum einen die Rituale und zum anderen die Organisationsformen beider Institutionen.

 

Dazu kamen die jeweiligen Bindungen an den zuständigen Monarchen bzw. danach an die nationale Symbolik, die den Europäer in seine jeweilige Nation bzw. in sein Volk einbinden.

 

Die Reformation war ein Einschnitt, nachdem die "Autorität" über die gemeinschaftlichen Rituale nicht mehr bei nur einer Institution lag, aber die Symbolik, die Rituale, die Bildersprache bzw. Mythik war letztlich immer noch eine weitgehend gemeinsame. Religionsgeschichtlich ist dieses Phänomen bei primären Religionen allerdings gar nicht so ungewöhnlich.

 

Die französische Revolution dagegen ging einen gewaltigen Schritt weiter und nahm der Kirche ihre "Verwalteraufgabe". Stattdessen organisierte sich ein besonderer "Staatskult" mit - nun ja - eigenen Ritualen (die in der Regel auch nur kopiert waren - der Mensch ist ein Gewohnheitstier), der einen eigenen identitäts- bzw. gemeinschaftbegründenden "Auftrag" erfüllte.

 

Im Zuge der Ausbreitung der Ideen der Revolution trat in ganz Europa - und den USA - die nationale Symbolik und der Zivilkult immer mehr an die Stelle des ursprünglichen religiösen Rituals. Mit dem Untergang der Monarchien entfielen weitere traditionelle Rituale, die ebenfalls nicht von den Kirchen aufgefangen wurden. Zum einen waren die Kirchen jahrhundertelang mit den Monarchien eng verbunden, zum anderen bestand in den neuen Nationalstaaten keine Notwendigkeit mehr dem religiösen Ritual beizutreten, da die nationale Symbolik und das zivile Ritual die Aufgabe der Identitäts- und Gemeinschaftsstiftung bereits übernommen hatten.

 

Nach WK2 verstärkte sich dieser Effekt noch. In den Diktaturen des Ostens dann auf die Spitze getrieben.

 

 

Für einen heutigen Deutschen besteht de facto keine Notwendigkeit in einer der beiden großen Kirchen organisiert zu sein oder ihrem spezifischen Rituale zu folgen. Wir haben zwar keinen Staatskult wie weiland in der DDR, aber eine recht ausgeprägte "Zivilreligion".

 

Diese Zivilreligion hat allerdings meiner Meinung nach zwei massive Probleme:

 

1. Die Zivilreligion befriedigt keine spirituellen Bedürfnisse. "Sinnsuche", Meditation, etc. sind im öffentlichen Ritual nicht oder nur sehr rudimentär angelegt. Der spirituell interessierte Mensch muss sich also weitere Quellen erschließen. Ich denke da z.B. an diesen Merkwürdigen Buddhismusboom der 70er.

2. Die Zivilreligion unterliegt keiner originären institutionellen Kontrolle. Eigentlich eine sehr archaische Situation - die meisten Primärreligionen kennen so eine Kontrolle nicht. In unserer heutigen Gesellschaft liegt darin allerdings insofern eine Gefahr, als das der Zivilkult quasi durch jede wortführende Gruppe okkupiert und umgelenkt werden kann (siehe Ökologismus, Genderismus, Coronaismus). Mit dieser Sektiererei verliert die Zivilreligion allerdings auch ihre identitäts- und gemeinschaftstiftende Kraft.

 

Deshalb sehe ich auch noch ein 3. Problem: Ihre fehlende Autorität. Das ist in anderen Ländern nicht ganz so unterentwickelt, aber bei uns hat sich die Zivilreligion zu einer Schüssel auf dem großen Büffett entwickelt. Unsere Rechtsordnung sieht aus gutem Willen die Religions- und Gewissensfreiheit vor, kennt aber keinerlei Beschränkung derselben. Mit dem Primat der Zivilreligion tun sich moderne Staaten dagegen ziemlich schwer, gleichwohl der Verzicht darauf bekannte Probleme (fehlende Integration, mangelnde Assimilation) verursacht. Hier kastriert sich die Zivilreligion im Prinzip selbst und nimmt sich selbst ihre identitäts- und gemeinschaftsstiftende Funktion.

 

Daß die Kirchen ihre Funktion als primäre Instanz des öffentlichen Kults (was jetzt bombastischer klingt, als es gemeint ist) wieder erlangen, ist in unseren Zeiten mehr als unwahrscheinlich.

 

Was der Katholika (wie auch den evangelischen) aber auch fehlt ist das urwüchsig-neue, wie es die missionierende Urkirche noch hatte um als Offenbarungsreligion für eine kleine Gruppe zu funktionieren. Dazu sind ihre Strukturen, ihre Botschaften, ihre Sprache und letztlich auch ihre Rituale viel zu "gewohnt".

 

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vor 9 Stunden schrieb Flo77:

Bis vor 100-150 Jahren war die Institution, die in den Ländern Europas diese Rituale "verwaltete" (mit Ausnahme Frankreichs) die Kirche (sei es nun die Katholische, die evangelische oder die anglikanische). Und so sehr sich in den Bi-konfessionellen Ländern auch die Konfessionen untereinander noch "bekriegten", so ähnlich waren sich zum einen die Rituale und zum anderen die Organisationsformen beider Institutionen.

 

Dazu kamen die jeweiligen Bindungen an den zuständigen Monarchen bzw. danach an die nationale Symbolik, die den Europäer in seine jeweilige Nation bzw. in sein Volk einbinden.

Stimmt die Zeitschiene?

Die gesetzliche Trennung zwischen Kirche und Staat wurde in Frankreich 1905 beschlossen, also vor 116 Jahren.

Bis zum zweiten Weltkrieg gab es in Deutschland kaum bikonfessionelle Gegenden. Jedes Dorf war entweder evangelisch oder katholisch. Meist galt das für den ganzen Landstrich. Erst mit der industriellen Revolution und dem damit einsetzenden Wachstum der Städte gab es dort entsprechende Mischungen; auf dem Land erst nach dem zweiten Weltkrieg, weil die Vertriebenen bewußt in Gegenden der 'anderen' Konfession angesiedelt wurden.

Auch der Nationalstaat ist, zumindest in Deutschland, gerade 150 Jahre alt.

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